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Ruinen in Syrien

APA/AFP/ABDULMONAM EASSA

Wo die Welt auseinander bricht

Wolfgang Bauer fährt dort hin, wo’s weh tut: Mit „Bruchzone“, seinen gesammelten Krisenreportagen, zeichnet er ein verstörendes Bild unserer Welt – und gibt gleichzeitig den Menschen in den Krisenzonen Stimme und Geschichte.

Von Rainer Springenschmid

Der Reporter Wolfgang Bauer erzählt aus Gegenden, aus denen bei uns keine Geschichten ankommen, die Bilder vom Leben hervorrufen, sondern nur Opferzahlen. Aus Orten, deren Namen in unseren Ohren so schrill klingen wie Alarmglocken: Syrien, Libyen, Somalia, Südsudan, Krim. Wolfgang Bauer ist einer der Reporter, die sich mit Zahlen und Agenturberichten aus solchen Weltgegenden nicht zufrieden geben. Er fährt hin und schaut, wie es den Menschen geht, die an diesen Orten leben müssen – weil sie nicht flüchten können, oder weil sie dorthin geflüchtet sind, aus einem Ort, an dem es noch schlimmer war.

Wolfgang Bauer arbeitet für die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ und heimst seit Jahren Preise für seine Reportagen ein. Vor fünf Jahren hat er im Buch „Über das Meer“ (Suhrkamp) von seinem Versuch erzählt, gemeinsam mit syrischen Flüchtlingen und der Hilfe von Schleppern über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Danach hat er sich in „Die geraubten Mädchen“ auf die Spuren der 276 von Boko Haram in Nigeria entführten Mädchen geheftet. „Bruchzone“ ist eine Sammlung seiner Reportagen aus den Jahren 2010 bis 2017, es trägt den schlichten Untertitel „Krisenreportagen“.

Bruchzonen von Wolfgang Bauer

Suhrkamp

„Bruchzone“ von Wolfgang Bauer ist beu Suhrkamp erschienen.

Die Krisenreportagen erzählen von gewöhnlichen und außergewöhnlichen Menschen, sie erzählen vom Alltag unter außergewöhnlichen Umständen. Da ist der russische Ermittler, der einen Serienmörder nicht zu fassen bekommt, wegen dem ältere Frauen in den Städten entlang der Wolga seit Jahren in Angst leben. Da ist der Somali-Amerikaner, der versucht, als Präsident des Bundesstaates Himan und Heeb zwischen Piraten und Islamisten so etwas wie ein geordnetes Staatswesen aufzubauen – und sich um den Klopapier-Nachschub seines Gastes aus Europa selbst kümmern muss. Da ist das jugendliche Liebespaar in Afghanistan, das auffliegt und um beider Leben fürchten muss. Da ist der neunjährige Bub, der mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg im Südsudan auf eine kleine Insel im Sumpfgebiet des Weißen Nil geflüchtet ist und wegen der Krankheit des Vaters die elfköpfige Familie mit Fischen versorgen muss – mit den wenigen Fischen, die das vergiftete Sumpfwasser noch hergibt.

Der Klappentext spricht von der „Zone, in der unsere Welt zerbricht oder schon zerbrochen ist“, und tatsächlich haben die meisten Reportagen recht unmittelbar mit der Welt zu tun, die wir aus den Nachrichten kennen, mit der Welt, mit der unsere direkt oder indirekt vernetzt ist – auch wenn diese Welten auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun zu haben scheinen.

Wolfgang Bauer ist in der letzten ukrainischen Armeebasis auf der Krim, als diese vor den russischen Okkupatoren kapituliert. Er erlebt den Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges, als die Regierung auf Demonstrationen schießen lässt und er begleitet einen Wirtschaftsprofessor und Minister der libyschen Übergangsregierung bei einer Waffenlieferung an die Front nach Misrata. Er trifft Familienangehörige von zivilen Opfern aus dem Drohnenkrieg in Waziristan, einer abgelegenen Gegend an der pakistanisch-afghanischen Grenze, wo die Bevölkerung ständig unter dem Brummen amerikanischer Aufklärungsdrohnen und der Angst vor einem Angriff von Killerdrohnen lebt. Hier ließ schon der amerikanische Friedensnobelpreisträger Barack Obama gezielt Menschen ermorden, die – wenn man den Erzählungen ihrer Angehörigen Glauben schenken kann – alles andere als Terroristen, sondern Lehrer, Bürgermeister und Großmütter bei der Feldarbeit waren.

Trotz seiner auf den ersten Blick deprimierenden Geschichten ist „Bruchzone“ kein zynisches oder hoffnungsloses Buch. Denn es erzählt immer auch von Menschen, die sich dem Wahnsinn entgegen stellen, von den Versuchen, ein würdevolles Leben zu leben. Und vor allem gibt es den Menschen ein Gesicht, eine Stimme und eine Geschichte, über die in der alltäglichen Berichterstattung nur Opferzahlen oder Gerüchte verbreitet werden. In all ihrer Nüchternheit geben Wolfgang Bauers Krisenreportagen den Menschen in ihrer würdelosen Situation ihre Geschichte und damit ihre Würde zurück.

Wer sich von Wolfgang Bauer eine flammende Anklage gegen die Urheber der Krisen unserer Welt erhofft, wird enttäuscht werden. „Bruchzone“ wirkt viel nüchterner und subtiler; es klärt anhand der beschriebenen Schicksale über die Hintergründe und Zusammenhänge auf, bei all der sorgfältigen Recherche transportiert es aber viel wichtigere – und handfestere – Wahrheiten: über das Leben in und mit den Bruchzonen unserer Welt.

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