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Thomas Hitzlsperger

AFP | Oliver Lang

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Thomas Hitzlsperger erzählt seine Geschichte

Vor zehn Jahren hat sich der ehemalige deutsche Fußball-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger als homosexuell geoutet. In seinem Buch „Mutproben“, das er gemeinsam mit dem Journalisten Holger Gertz geschrieben hat, erzählt er davon – und von seiner Karriere.

Von Rainer Springenschmid

Es ist nicht überliefert, ob Uli Hoeneß’ Gesichtsfarbe an jenem Tag im Februar 2000 im Pantone Skintone Guide zu finden gewesen wäre. Es waren, nach allem was man weiß, keine Farbexpert:innen anwesend im Büro des FC-Bayern-Patriarchen an der Säbener Straße an jenem Tag im Februar 2000 - stattdessen der Landwirt Ludwig Hitzlsperger aus Forstinning bei München, sein 17-jähriger Sohn Thomas, hoffnungsvoller Nachwuchsfußballer in der Jugend des FC Bayern, und dessen Jugendtrainer Roman Grill. Und Uli Hoeneß, dessen Gesichtsfarbe mutmaßlich irgendwo zwischen Pantone 17-1456 Tigerlily und Pantone 18-2326 Cactus Flower angesiedelt war. Anders ausgedrückt: Uli Hoeneß soll gekocht haben vor Wut.

In die Wut des FC-Bayern-Managers, das darf man annehmen, mischten sich Enttäuschung und Unverständnis über den talentierten Fußballer, der nach zwölf Jahren in der Jugend des ruhmreichen FC Bayern München so kurz vor dem Sprung in den Profi-Kader stand, stattdessen aber lieber ablösefrei in die englische Premier League zu Aston Villa wechselte. Wenn es wenigstens Manchester United oder Real Madrid gewesen wären, aber vom Weltclub aus der Heimat zum Provinzverein im fernen Birmingham?

Ein lauter und ein leiser Knall

Thomas Hitzlspergers Karriere als aktiver Profifußballer begann mit einem Knall und 14 Jahre später, nach 52 Länderspielen für Deutschland, einem verlorenen EM-Finale in Wien und einem Deutschen Meistertitel mit dem VfB Stuttgart, endete sie wieder mit einem Knall - einem Knall, der ungleich leiser war, dessen Echo aber trotzdem bis heute nachhallt: Im Jänner 2014 bekennt sich Thomas Hitzlsperger in einem Interview mit Carolin Emcke und Moritz Müller-Wirth in der Zeit offen zu seiner Homosexualität, als erster deutscher und als bislang profiliertester (ehemaliger) Fußballprofi.

Thomas Hitzlsperger

KiWi

„Mutproben“ ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Leiser war dieser Knall, weil kein Manager tobte und niemand vernehmbar Wut, Enttäuschung oder Unverständnis äußerte, auch Häme, Verachtung oder Hass waren öffentlich nicht vernehmbar. Stattdessen Anerkennung, Erleichterung und Hoffnung. Anerkennung für diesen Fußballer, der als erster in Deutschland den Mut gefunden hatte, offen zu etwas zu stehen, was im Fußball – wie sonst auch – eigentlich keine Rolle spielen sollte. Erleichterung und Hoffnung, weil die Frage „Warum gibt es eigentlich keine offen schwulen Fußballer?“ und ihre fiese kleine Schwester „Welche Fußballer könnten schwul sein?“ vermeintlich einer Antwort entgegensteuerten. Endlich, so schien es, war der Stein ins Rollen gebracht und Homosexualität auch im Männerfußball auf dem Weg zur Normalität.

Thomas Hitzlsperger war zweifellos geeignet, diesen Stein ins Rollen zu bringen. Zum einen, weil er keinem der Klischeebilder entsprach, das sich die Mainstreamgesellschaft von Schwulen zeichnete. In England war er wegen der enormen Schusskraft seines linken Fußes ehrfürchtig „Hitz the Hammer“ getauft worden. Auf der Liste vermeintlich oder möglicherweise schwuler Fußballer, die sich Fußballfans mit mehr oder weniger homophobem Unterton zuraunten, wird sein Name nicht allzu oft aufgetaucht sein.

Zum anderen ist Hitzlsperger, das zeigt nicht nur die Anekdote aus dem Büro von Uli Hoeneß, mutig und intelligent. Mutig und intelligent genug, auch die Reaktionen und das große Interesse nach seinem Coming-out nicht nur durchzustehen, sondern so zu moderieren, dass in der Öffentlichkeit tatsächlich ein Mehrwert aus der Debatte übrig blieb, auch wenn sein Move tatsächlich den Stein nicht ins Rollen, sondern nur ein bisschen zum Wackeln brachte. Trotzdem wird Thomas Hitzlspergers Coming-out bis heute zurecht als Meilenstein im Kampf für Diversität - nicht nur im Fußball - angesehen.

Meilenstein im Kampf für Diversität

In seinem Buch „Mutproben“, verfasst mit dem Journalisten Holger Gertz von der Süddeutschen Zeitung, erzählt Hitzlsperger auch von seiner Kindheit am Bauernhof seiner Eltern als jüngstes von sieben Geschwistern, einer Zeit lang bevor er sich selbst seiner Homosexualität bewusst war. Von den Ups und Downs seiner Fußballkarriere, von der Zeit, als bei ihm die Erkenntnis reifte, auf Männer zu stehen, und vom Struggle damit, im Fußball und auch im Privatleben. Wie er mehr als einmal kurz vor seinem Coming-out stand und wie und warum das Interview mit der Zeit erst Jahre nachdem es geführt wurde erschien.

„Nach dem Coming-out wieder in die Kabine zu gehen - das wäre für mich die größte Herausforderung und Belastung gewesen.“

Hitzlsperger erzählt auch von seiner Karriere und seinen Fehlern als Fußballfunktionär beim VfB Stuttgart, von seiner Arbeit als Journalist, er gibt Einblicke in seine Haltung zum Umgang mit der WM in Katar und warum der Wechsel von Jordan Henderson vom FC Liverpool nach Saudi-Arabien solch ein Schock für queere Menschen im Fußball war.

„Mutproben“ beantwortet die Frage, warum es so schwer ist, sich als aktiver Profifußballer zu outen, vielleicht nicht abschließend, macht aber die inneren Kämpfe, das Für und Wider anschaulich: vom Klima in der Kabine, der Reaktion von Öffentlichkeit und Medien und deren Folgen für ihn als Einzelnen.

„Mutproben“ ist aber nicht nur die Geschichte eines Coming-outs, es ist auch die Geschichte eines jungen Mannes, der vom elterlichen Bauernhof in die Welt des Profifußballs zog und der sich heute vor und hinter der Fernsehkamera genauso wohl fühlt wie beim Ausmisten im elterlichen Stall.

Pflichtlektüre für Fußballfunktionäre, Spieler und Fans

Thomas Hitzlsperger wirkt beneidenswert geerdet. Er geriert sich nicht als Kämpfer mit erhobener Faust, sein Aktivismus ist leise, aber bestimmt. Er ist heute ein anerkannter Fußballfunktionär, Journalist und Fußballexperte, ein gefragter Gesprächspartner, wenn es um Diversität (aber nicht nur) im Fußball geht. In seinem Buch verknüpft er Politisches und Privates, spricht an, was noch zu tun ist, und zeigt Heuchelei und Widersprüche auf, ohne zu urteilen oder gar selbstgerecht oder belehrend zu wirken.

Holger Gertz gießt Thomas Hitzlspergers Autobiografie in ein anekdotenreiches, gut zu lesendes Buch, das seine Persönlichkeit, seine Geschichte und die inneren und äußeren Kämpfe als Fußballer und als wacher und politischer Mensch nachvollziehbar und lebendig macht.

Rapid-Präsident Alexander Wrabetz sollte es als Pflichtlektüre für Spieler, Fans und Funktionäre seines Vereins einführen.

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