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Bayonne

Jackie Lee Young

artist of the week

Tropische Popmusik für ein besseres Paralleluniversum

Im Geiste von Acts wie Caribou oder Animal Collective macht Roger Sellers aka Bayonne detailreiche, überschäumende Popmusik voll komplexer Rhythmen und hymnischer Melodien. Mit seinem zweiten Album „Drastic Measures“ ist er unser FM4 Artist Of The Week.

Von Katharina Seidler

Wer schon einmal jemanden vermisst hat, wer eine Erinnerung wachrufen, einen bestimmten Moment wieder spüren oder jemandem am anderen Ende der Welt einen Gruß zukommen lassen wollte, der hat die grenzüberschreitende Kraft von Musik bereits kennengelernt. Mehr als andere Kunstformen schafft sie es, in Millisekunden Gefühle und Gedanken zu evozieren, und sie überwindet dabei Jahre und Jahrzehnte ebenso mühelos wie Gebirge, Ozeane und Häuserschluchten.

Ebendieses Transzendieren von Raum und Zeit mittels Musik ist das Grundthema von „Drastic Measures“, dem zweiten Album des texanischen Musikers Rogers Sellers aka Bayonne. Seine Songs tragen in sich sowohl seine Heimat als auch die weite Welt, die er als Künstler bereist hat. Sie stellen Verbindungen her. Im Titelsong werden diese wörtlich angesprochen: „Taking drastic measures for the ride, promising my family and the friends I never see that I’m alive“; sie ziehen sich aber auch musikalisch durch das ganze Album.

Ein zentrales Element in Bayonnes Musik sind hierbei Field Recordings. Sellers hat sie ein Jahrzehnt lang gesammelt und in minutiöser Kleinarbeit in seine Songs eingearbeitet. „Jedes Klatschen oder Fingerschnippen, das ihr hört, habe ich vermutlich 10 oder 20 Mal geschichtet und bearbeitet“, erzählt er hierzu. Der Aufwand macht sich bezahlt. Die Claps schnalzen so warm und knackig, als würden sie direkt vor den Heimboxen geklatscht, die Fülle an klanglichen Details lässt das Album auch beim fünften Hördurchgang noch frisch klingen.

Bayonne Album Cover

City Slang

„Drastic Measures“ von Bayonne erscheint am 22.2.2019 via City Slang

Die Field Recordings von Klängen nicht-menschlichen Ursprungs werden dankenswerterweise nie zum Selbstzweck geographischer Orientierung. Wir hören Wasser und Wind, Baumgeräusche und zwitschernde Vögel, aber sie dienen nicht dazu, den jeweiligen Song in, beispielsweise, einen Dschungel zu versetzen. Vielmehr ist es beim Zuhören oft gar nicht klar, wo es da gerade raschelt und knistert, man spürt nur eine organische Kraft, die wie aus einer bunten, freundlichen Welt ins Jetzt herüber weht. Man möchte Teil davon sein.

Im Vordergrund, hinter dem all diese magischen Dinge passieren, stehen Bayonnes Stimme und sein Klavier, Hauptinstrument aus Kindertagen. Trotz all der farbenfrohen Psychedelik und der komplexen Rhythmuspatterns gehen die Songs auf „Drastic Measures“ nämlich leicht ins Ohr; ihre herzerwärmenden Indie-Pop-Melodien werden noch viele Sommertage vertonen. Die repetitiven Minimal-Music-Pianos von Komponisten wie Steve Reich oder Terry Riley sind bei Bayonne ebenso präsent wie der üppige Indietronica-Sound von etwa Caribou, Toro y Moi oder Animal Collective. Während Songs wie „Abilia“ durch ihre nach vorne preschenden Percussions und harmonische Klimax aus voller Kehle „Hymne!“ rufen, wird ihre Absicht nie zu platt spürbar. Die Herzen werden ihnen vor den großen Festivalbühnen ganz von allein zufliegen.

„Drastic Measures“ holt mit seiner weltumarmenden Kraft den Einzelnen aus seiner Isolation und schafft eine Gemeinsamkeit jenseits von Genre- und Ländergrenzen. Gerade weil die Lyrics vor persönlichen Tiefen, vor Selbstzweifeln und Einsamkeit nicht die Augen verschließen, haben sie die Kraft, diese zu überwinden. Nach dem Hören dieser Platte von Bayonne weiß man: We’re all in this together. Dass Popmusik das kann, ist vielleicht ihr größter Verdienst.

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