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DAF beim Elevate

Johanna Lamprecht / Elevate / CC BY-NC-ND 2.0

Unser Tanz ist voller Macht

Unter dem Motto #truth hat das 15. Elevate Festival fünf Tage und Nächte lang in Graz die Gegenwart und Zukunft verhandelt. Ein Wochenende mit vielen Denkanstößen und Möglichkeiten zur Extrem-Erfahrung.

Von Katharina Seidler

Wollt ihr, dass die Erde wieder bebt?

Dann geht nach Graz, an einem abwechselnd frühlingshaften wie angemessen kalten Wochenende, das die Klimakrise, die es unter anderem verhandelt, durch seine Wetterkapriolen verkörpert. Die gute Nachricht ist: Tagsüber kann man kurzärmelig herumgehen. Die schlechte Nachricht ist, dass das alles andere als eine gute Nachricht ist.

Mach immer nur, was du willst, was dir gefällt, singen DAF zum Abschluss eines intensiven Festivalwochenendes, und man möchte ergänzen, wenn es dir gefällt, mit SUVs herumzubrausen, Journalisten zu belügen, Steuern zu hinterziehen oder im großen Stil Daten zu horten, dann mach es vielleicht besser doch nicht. Es ist nicht 5 vor 12, sondern schon weit danach, so der Grundtenor des wieder sehr umfangreichen Diskursprogramms des Elevate. Dennoch kommt man inmitten so vieler kluger Köpfe und großer Herzen von Nnimmo Bassey bis Deena Abdelwahed nicht umhin, auch ein wenig Hoffnung zu schöpfen. Es gibt sie noch, die guten Menschen.

Legenden-Forschung

Während an den vorangehenden Tagen beim Elevate also die Zukunft vermessen wurde, die des Planeten, die des Kapitalismus, des Internets und der Musik, steht zum großen Finale noch einmal Legenden-Forschung auf dem Programm. In Dialog mit den fantastischen heimischen Post-Punks Lady Lynch treten am Sonntag die Düsseldorfer Urgesteine DAF. Man weiß davon, DAF haben mit ihren vier Alben ab den späten 70er Jahren eine Blaupause für vieles, was zwischen Electro, Neuer Deutscher Welle, Punk, Techno und EBM Platz hat, geschaffen und haben dieses Erbe mühelos ins Jetzt gerettet. DAF-Sänger Gabi Delgado ist scheinbar überhaupt nicht gealtert, ebensowenig wie ewige Hits mit potentiellen Tattoosprüchen und Lebensweisheiten: Liebe mich, mein Liebling, als wär’s das letzte Mal.

DAF beim Elevate

Johanna Lamprecht / Elevate / CC BY-NC-ND 2.0

DAF

Delgado reißt sein Hemd auf und überschüttet sich mit literweise Wasser. In großen Schritten durchmisst er die Bühne des Orpheums, die seit einigen Jahren gleich an mehreren Tagen das Festival um eine Konzert-Location bereichert. Das ist Liebe, das ist Sex. Selbst, wer nach all den Eindrücken und Anstrengungen des Wochenendes seine Stimme verloren hat und in den Knien bereits unlocker war, wird mitgerissen.

Unser Tanz ist voller Macht.

In der Samstagnacht konnte man auf den drei Floors im Bauch des Schlossberges gleich mehrere Grenzerfahrungen machen, nachdem man sich möglicherweise schon zuvor bei der Daytime Party im Orpheum müdegetanzt hatte. Seit zwei Jahren muss man sich für den vierten Elevate-Tag ja extra gut ausschlafen, denn die Tagesbühne lockt, diesmal mit Sets der Funk-Disco-Queen Jayda G, Michael Mayer oder Dorian Concept.

Elevate 2019 Dorian Concept

Johanna Lamprecht / Elevate / CC BY-NC-ND 2.0

Dorian Concept

Dorian Concept. Er ist der zurecht meistgebuchte Artist aus den vergangenen 15 Elevate-Editionen, was er fast ebenso schüchtern zugibt wie die Tatsache, dass er sich gegen das Abfilmen seiner Hände beim Spielen über längere Zeit gewehrt hat, um nicht angeberisch zu wirken. So jemand ist Dorian Concept. In Zusammenarbeit mit dem Visualisten PRCLS ist dann doch eine brandneue AV-Show entstanden, die mit Top-Shot-Kameras seine Finger beim Flitzen über die Synthesizertasten abfilmt und als kaleidoskopische Projektionen auf die große Leinwand wirft.

Wie immer ist das Set nichts weniger als atemberaubend. Seine Rhythmus- und Melodie-Zerhäckselungen aus dem noch immer freshen Letztjahres-Album „The Nature of Imitation“ serviert Dorian Concept mit so viel Kraft und Punch, dass sich ihre jazzige Komplexität quasi durch die Hintertür einschleicht. Staunen und Tanzen gehen in trauter Harmonie Hand in Hand.

Herzenswärme im Club

Danach findet das Orpheum ein für alle mal eine Antwort auf die Frage, was eine/n gute/n DJ ausmacht, denn Michael Mayer kann zaubern. Auf der Suche nach Innovation blicken Clubmusik-affine Festivals wie Elevate, CTM oder Mutek eher nach Kampala, nach Cape Town, Lissabon, Mexiko City, Chicago oder, immer noch, London, und eher nicht nach Köln. Dennoch schafft es Mayer mit seinem Label Kompakt, seit über 20 Jahren relevant zu bleiben, als DJ’s DJ, der mit Techno, House und Disco Herzenswärme versprüht und die allzu oft - gähn! - zitierte „Reise“, die eine sinnvolle Aneinanderreihung von guten Platten darstellt, Wirklichkeit werden lässt. Irgendwo auf dem Dancefloor steht Philipp L’Heritier mit seinem Stoffsackerl, schaukelt von einem Bein auf das andere und brüllt mir ins Ohr.

Slikback Elevate

Stefan Lozar / Elevate / CC BY-NC-ND 2.0

The Bug bejubelt zu Recht Slikback

Bitte denk an nichts. Glaube mir. Alles ist gut.

Apropos Kampala. In der ugandischen Hauptstadt bildet das Label Nyege Nyege Tapes in Kombination mit dem dazugehörigen Nyege Nyege Festival die derzeit wichtigste Plattform für ostafrikanische Musik und Clubmusik. Als Tochter-, Schwestern- oder Partner-Label hat Nyege Nyege im letzten Sommer Hakuna Kulala vorgestellt, das sich, ebenfalls von Kampala aus, der Erforschung von noch dunkleren, abstrakteren Musikentwürfen aus der Clubwelt Ostafrikas widmet.

Einer der Köpfe hinter Hakuna Kulala ist der kenianische Produzent Slikback, der am Elevate-Samstag im Tunnel auf der Bühne stand. Footwork, Trap, Grime und dekonstruierte Clubmusik zerschreddert er zu einem dunklen Hybrid, das gleichzeitig als komplexe Klangskulptur wie als Tanzantrieb funktioniert, live am Festival in einer besonders kompromisslosen, harten Variante. Zwei EPs von Slikback sind bisher auf Hakuna Kulala erschienen, die jüngste, sehr gute „Tomo“, erst vor einem Monat.

Miss Red Elevate

Stefan Lozar / Elevate / CC BY-NC-ND 2.0

Miss Red

Bass, Bass, Bass

Die israelische Sängerin und MC Miss Red hat als Überraschung ihren altbekannten Partner in Crime Kevin Martin alias The Bug aufs Elevate mitgebracht. Diese Kombination aus Acid-Ragga, Dancehall und Bass, Bass, Bass, Bass, ist für sich genommen schon ein Erlebnis, aber in der stickigen Luft des Tunnel-Floors, in dieser vermutlich kaum mehr gesunden Lautstärke, kann man zwischenzeitlich gar um den eigenen Verstand fürchten. Das Elevate gibt sich in dieser Nacht besonders gewaltig.

Währenddessen, davor und danach kracht es auf allen Floors. Im Dungeon schraubt der amerikanische Komponist Keith Fullerton Whitman Minimal Music, intelligenten Techno, Nebel und Stroboskope zu einem nervenzerfetzenden Gesamtkunstwerk zusammen, im Dom im Berg tritt „Noisician“ Paula Temple als federführender Teil einer feministischen Techno-Bewegung auf. Es war vor allem ein Abend der Extreme, an dem eigentlich jedes Set, ob live oder aufgelegt, härter und unbeugsamer als erwartet ausfiel. Im Bassdruck und Blitzlicht wird man völlig auf sich selbst zurückgeworfen. So soll es sein.

Ein Festival ist immer auch die Summe all dessen, was du dort nicht erlebst. Verpasse also Astrid Sonne und Mopcut, weil du alte Bekannte triffst. Suche (und finde nicht) eine Überraschungs-Tanz-Performance der neuen Geheim-Reihe Playy Club, die während des Elevate tägliche Happenings an verschiedenen Orten der Stadt veranstaltet. Lass dich von Stine Janvin anschreien, die ihre Stimme im Sinne des Festivalmottos „Truth“ von etwas Natürlichem in etwas Synthetisches, also „fakes“ verwandelt – oder eben nicht, weil du dich im Stadtpark verirrst, einen Cocktail mit Knisterschokolade trinkst oder in Graz eine gute Pizza suchst (schwierig). All das gehört genauso dazu und formt das Gesamterlebnis eines Festivalwochenendes. Vor allem aber: Verschwende deine Jugend, oder bleib am liebsten gleich forever young. 15 Jahre sind erst der Anfang.

Elevate 2019

Lena Prehal / Elevate / CC BY-NC-ND 2.0

Kabel am Dungeon-Floor

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