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Boris Johnson vor Downing Street

LEON NEAL / AFP

ROBERT ROTIFER

Weder Dude noch Duce

Wir wussten schon lange, dass Boris Johnson als britischer Premier unvermeidlich war. Aber was kommt jetzt? Die kürzeste aller Amtszeiten, wage ich vorauszusagen.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

So, jetzt ist der Wahnsinn wohl perfekt. Im Queen Elizabeth II Centre spielten sie Churchill-Zitate aus dem Krieg und natürlich die alten Thatcher-Schrullen („The Lady’s not for turning“ bzw. ihr Preisen des „decline of Socialism“), ein bisschen was patriotisch Klingendes von John Major, ja sogar Soundbites von Cameron und May, ehe die konservative Parlamentarierin Cheryl Gillan auf die Bühne kam, um das horrible Unvermeidliche zu verkünden.

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Und wie hier anderswo schon bemerkt, ist das einstweilen auch schon gut so: Hätte Jeremy Hunt gewonnen, könnte Boris Johnson weiterhin ohne Verantwortung seine Mythen verbreiten. Er hat Großbritannien – gemeinsam mit Nigel Farage und diversen anderen Leuchten – an den Rand der närrischen nationalistischen Selbstsabotage geführt, und er muss jetzt mit der Realität des Resultats fertig werden.

Boris Johnson hatte seine Gelegenheit, eine staatsmännische Rede zu halten, und er nützte sie dazu, die noblen Instinkte der britischen Konservativen zu preisen. Auf der einen Seite die „tiefe Sehnsucht“ nach freiem Handel und Harmonie mit den Partner*innen in Übersee, auf der anderen jene nach der demokratischen Selbstbestimmung des britischen Volks. Die Antwort auf diesen vorgeblichen Widerspruch war typisch Johnson: „Deliver Brexit, unite the country, defeat Jeremy Corbyn."
Die Anfangsbuchstaben dieser Ziele ließen sich als „D U D“ („dud“ heißt „Niete“) abkürzen, aber da gäbe es noch ein „E“, nämlich „Energize“ hinzuzufügen, was dann ein herzhaftes „DUDE“ ergebe.

Uff.

Und überhaupt: „We can do it.“

Und jetzt das Gruselkabinett

Das „How“ spielt bei Johnson nie eine große Rolle, wenn man den Zweifler*innen seinen optimistischen „spirit of can do“ entgegensetzen kann. Und eine Welt, wo „in jedem Haushalt Super-Glasfaser-Breitband-Leitungen aus den Wänden sprießen.“

Vergessen wir all diese Lufblasen. Was wird in der echten Welt als Nächstes passieren:

Zunächst stellt Johnson ein wahres Gruselkabinett zusammen. Selbst wenn er den Pragmatiker*innen in der konservativen Fraktion mit Versöhnlichkeit begegnen hätte wollen, nahm ihm diese Option der Schatzkanzler Philip Hammond mit seinem demonstrativen, vorzeitigen Rücktritt. Wer mit Johnson arbeiten will, muss dem No Deal-Todeskult beitreten.

Wir kennen Johnsons Regierungs-Team zwar noch nicht, aber obwohl alle von Einheit sprechen und schreiben werden, ist anzunehmen, dass völlig irre Mitglieder des Ayn Rand- und Enoch Powell-Fanclubs wie Dominic Raab, Liz Truss, Priti Patel, Caroline Noakes und Jacob Rees-Mogg mit Minister*innenämtern belohnt werden. Die gern als besonnen missverstandene Amber Rudd ist gewiss auch mit von der Partie, detto Michael Gove.

Es kam auch sicher nicht ganz von ungefähr, dass der Innenminister (Home Secretary) Sajid Javid vor ein paar Tagen eine Rede gegen Extremismus hielt, in der er Farage und seine Brexit Party konkret von jedem Extremismus freisprach bzw. dessen Verlassen seiner alten Partei UKIP zu einem politischen Gewissensakt hochstilisierte. Das konnte gar keinen anderen Sinn haben, als die Anbahnung der ultimativen Verantwortungslosigkeit, den korrupten Trump-Spezi als Handelsdelegierten oder gar Botschafter mit ins Boot zu holen.

Boris Johnson neben seinem Konkurrenten Jeremy Hunt bei der Verkündung des Ergebnisses

Stefan Rousseau / POOL / AFP

Boris Johnson neben seinem Konkurrenten Jeremy Hunt bei der Verkündung des Ergebnisses

Der Herbst kommt schnell

Was immer passiert, wird vom überwiegenden Teil der Presse und wohl auch der BBC erst einmal als glorreicher Neuanfang gefeiert, Johnson als hinter der Fassade des Clowns eigentlich schlauer Staatsmann schöngeredet werden. Und ich selbst werde mich sehr glücklich schätzen, für diese Horror-Show samt Verneigung vor der Queen gerade nicht in England zu weilen.

„The rocket boosters are on, he’s off“, jubelte Norman Smith, der BBC-Korrespondent, gerade vorher erwartungsgemäß.

Aber einen guten Teil seines Kapitals an gutem Willen hat Johnson in den letzten Wochen der surrealen medialen Fixierung auf die konservative Partei bereits aufgebraucht. Der Herbst wird ganz schnell auf ihn zukommen.

Johnson nämlich ist nicht Trump.

Er ist eben kein Dude, wirkt immer ein wenig deplatziert in volkstümlichen Kundgebungen vor Industrie-Arbeitern. Er kann nicht lang genug still stehen, um den Massen sein Duce-Kinn entgegen zu strecken bzw. gilt für ihn notfalls, was auch für Oswald Mosleys Schwarzhemden in den Dreißigern galt:

Die britische Klassengesellschaft lässt es nicht zu, dass die Working Class einen Aristokraten als Ersten unter Gleichen wahrnimmt. Sie ist autoritätshörig und lässt sich von ihm ein gutes Stück des Wegs in den Ruin leiten, aber sie wird sich nicht mit ihm identifizieren. Und das ist ein entscheidender Unterschied.

Weiters hat Großbritannien eben kein Präsidialsystem, der Premierminister ist von einer Mehrheit im Unterhaus abhängig, und die interne Opposition innerhalb der Tories, die sonst verlässlich umfällt, meint es diesmal offenbar wirklich ernst (siehe Hammond, aber auch Leute wie Rory Stewart, Alan Duncan und den ungenierten Remainer Dominic Grieve).
Johnson braucht zwar keine Mehrheit, um das Land in einen No Deal-Brexit rutschen zu lassen, aber er braucht sie sehr wohl, um davor nicht vom Unterhaus abgesetzt zu werden.

Boris Johnson

Tolga AKMEN / AFP

Selbst jene Labour-Abgeordneten aus pro-Brexit-Wahlkreisen, die im Moment nur an ihren Sitz denken und sich aus Angst vor dem Volkszorn (oder gar aus Überzeugung) bedingungslos hinter den Brexit stellen, werden im Fall eines Misstrauens-Antrags nicht als diejenigen dastehen wollen, die einen Selbstfaller einer Tory-Regierung verhindert haben.

Wenn Johnson also bei der EU mit seinen Forderungen nach einem Deal ohne irischen Backstop erwartungsgemäß anrennt, und sobald sich in den Medien die Schicksals-Geschichten von Eltern häufen, die um die Versorgung ihrer chronisch kranken Kinder mit im Zoll feststeckenden Medikamenten bangen, wird „No Deal!“ in den Ohren der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr nach Befreiung, sondern nach Bedrohung klingen.

Johnson wird die EU beschuldigen, Großbritannien mutwillig ins Elend zu treiben. Und er wird behaupten, dass die Verschwörung von Brüssel mit den Verräter*innen im eigenen Unterhaus ihm keine andere Wahl lässt, als den Austrittsprozess noch einmal zu stoppen, um im Herbst Neuwahlen abzuhalten.

In diesem Fall wird zwar Labour nicht gewinnen, aber eine Koalition bzw. eine Allianz aus den Tories und der Brexit Party wird eine massenhafte Abwanderung einer bisher vernachlässigten Schicht konservativer Wähler*innen in Richtung der Liberaldemokrat*innen bewirken. Deren neue Chefin ist seit gestern nämlich Jo Swinson, eine Anti-Brexit-Aktivistin, die sich gleichzeitig für eine Statue zum Gedenken an Margaret Thatcher ausgesprochen hat. Sie scheint sehr wählbar für moderate Tories, die Theresa May 2017 gerade noch die Stange hielten. Diese gutbürgerliche Klientel wäre wohl dafür anfällig gewesen, sich von Boris Johnson einkochen zu lassen. Aber einen No-Deal-Kurs wird sie nicht mittragen, selbst wenn Johnson eine Labour-Libdem-Koalition unter Corbyn als bolschewistisches Komplott an die Wand malt.

Also, ich sitze gerade in Wien, draußen scheint die Sonne, und ich sage, Boris Johnson wird bis Weihnachten der kürzest regierende Premier der Nachkriegsperiode gewesene sein.

So wird es geschehen, ganz sicher. Außer alles kommt völlig anders, natürlich. Das wär auch gut möglich.

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