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Leuchtwerbung in nächtlichem Einkaufszentrum: "Business: Get ready for Brexit"

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Press Pause - Eject!

Nicht von der Ermüdung täuschen lassen: Was gestern im britischen Unterhaus passierte, war weit mehr als wieder bloß ein Aufschub. Die endlose Brexit-Soap ist der entscheidenden Phase ein gutes Stück näher gekommen.

Eine Kolumne vonRobert Rotifer

Auf Urlaub und krank sein sind keine guten Voraussetzungen fürs Blogschreiben, aber erstens kann ich eh nicht wegschauen, zweitens geht’s schon gut genug zum Tippen. Und Drittens lässt sich ja wirklich nicht ignorieren, was da passiert ist im Unterhaus.

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ja, stimmt schon, die Brexit-Berichterstattung ist ein Genre, wo man zwischendurch abtauchen kann und sich dann freut, was letztlich Folgenloses man sich zu beschreiben erspart hat. Aber diesmal ist das Gegenteil der Fall:

Lasst euch nicht von faulen und verwirrten Kolleg*innen einreden, dass wieder nur alles verschoben wurde und sich gar nichts getan hat.
Unsinn: Alles ist anders seit gestern, ehrlich. Wir sind der Entscheidung ein gutes Stück näher gekommen.

Leuchtwerbung in nächtlichem Einkaufszentrum: "Business: Get ready for Brexit"

Robert Rotifer

Durchhalteparole der Regierung Johnson, letzten Montag des Nachts im Stratford Westfield Einkaufszentrum

Fassen wir kurz zusammen, was seit dem sogenannten Super Saturday geschah: Zuerst versuchte die Regierung ihr Withdrawal Agreement, den sogenannten „Deal“ durchzubringen, der den ehemals ausverhandelten, nur für den Fall eines nicht gelungenen Handelsabkommens vorgesehenen irischen Backstop durch eine fixe hyperbürokratische Lösung eines de facto eigenen Zollraums für Nordirland innerhalb der Vereinigten Königreichs vorgesehen hätte („Deal“ ab jetzt nur mehr unter Anführungszeichen, da es ja darin nur um das Austrittsabkommen und nicht um die späteren Handelsbeziehungen geht).

Dann aber kam das von Oliver Letwin, einem der im September geschassten Brexit-Rebell*innen eingebrachte Amendment (!!!), wonach vor dem Withdrawal Agreement zuerst die zugehörige Gesetzgebung, die „Withdrawal Agreement Bill“ beschlossen werden müsse (Großer Unterschied: Agreement ist nicht Agreement Bill).

Kill Bill?

Darin sollte alles Mögliche, was derzeit von EU-Recht geregelt wird, in britisches Recht überführt werden, samt Potenzial zu allerhand äh... Vereinfachungen und Veränderungen in Bereichen wie etwa dem Arbeitsrecht oder der Umweltschutzgesetze. Die Withdrawal Agreement Bill war also immer schon eine große Sorge unter den kritischeren Geistern der Opposition gewesen, und zu Mays Zeiten war man davon ausgegangen, dass ihre Verabschiedung mehrere Wochen in Anspruch nehmen würde.

Letwin bzw. andere Rebell*innen, sowie die Opposition erhofften sich einerseits, dadurch die sinnlose Deadline des 31. Oktober endgültig unmöglich zu machen und andererseits noch ein paar andere Amendments ins Gesetz reinschreiben zu können, wie etwa ein neues Referendum oder gar eine Zollunion.

Das konnten Johnson und seinesgleichen natürlich nicht zulassen, also veröffentlichten sie am Montagabend eine in hermetischem Juristenenglisch abgefasste Withdrawal Agreement Bill, über die schon am Dienstagabend abgestimmt werden sollte. In der Zwischenzeit waren aber zwei ganz wesentliche Dinge passiert:

1) Die Deadline des im September verabschiedeten, sogenannten „Benn Act“ war verstrichen und Johnson musste, wie ihm gesetzlich vorgeschrieben, bei der EU um eine Verlängerung der Austrittsfrist um mindestens drei Monate ansuchen.

Pausenlos hatten er und seine Regierungskolleg*innen uns in Interviews wissen lassen, dass sie eine ganz tolle List ausgeheckt hätten, um dies zu verhindern. Kann nicht wirklich glauben, dass sie ehrlich dachten, es würde was ändern, wenn er nicht unterschreibt und einen sinnlosen Käsezettel beilegt. Aber für die britische Tagespresse reichte es zur Ablenkung. Tatsächlich wesentlich: Das Ansuchen wurde gestellt, der No Deal-Brexit zu Halloween ist so gut wie ausgeschlossen.

2) Es begann durchzusickern, dass der von der Regierung vorgeschlagene „Deal“ für den Handel zwischen Großbritannien und Nordirland (Großbritannien plus Nordirland = United Kingdom) ruinöse Kosten und Frachtpapierberge bedeuten würde. Die DUP, jene nordirische Fraktion, die seit den Wahlen 2017 die konservative Regierung gestützt hatte, musste einsehen, dass ihr bester Freund Boris sie, wie man auf Englisch so schön sagt, „unter den Bus geworfen“ hatte.

Die unionistisch-protestantische Fraktion ist nun nicht mehr bereit, Johnsons „Deal“ mitzutragen. In den britischen Medien, die Nordirland wenn überhaupt dann nur als Problem wahrnehmen, scheint man bis jetzt nicht mitgekriegt zu haben, was es politisch in der Praxis bedeutet, dass nun KEINE EINZIGE Fraktion in Nordirland (das 2016 bekanntlich mit starker Mehrheit „Remain“ stimmte) mehr Johnsons Brexit unterstützt.

Spätestens wenn der „Deal“ durchgegangen wäre, hätten sie’s begriffen, aber das passiert ja wohl nun für eine Weile nicht, oder überhaupt nie, weil gestern...

Pull Bill?

Also gestern ließen sich genug Labour-Abgeordnete durch den öffentlichen Druck der allgemeinen Brexit-Ermüdung dazu hinreißen, für die Withdrawal Agreement Bill zu stimmen, dass jene ihr sogenanntes „Second Reading“ passierte. Das reichte aber nicht für eine Mehrheit in der „Programme Motion“, die den Zeitplan der Verabschiedung dieses heiklen, komplexen Gesetzes auf drei knappe Tage komprimiert hätte. Mit der sehr durchschaubaren Absicht, dem Unterhaus keine Chance auf eine genauere Durchsicht des Gesetzestexts bzw. das Einbringen oben erwähnter Amendments zu geben.

Vor der Abstimmung hatte Johnson gedroht, er werde, falls er die Programme Motion verliere, das Gesetz völlig zurückziehen und somit Neuwahlen provozieren. Worauf es nur zwei Antworten hätte geben sollen: a) Na und? b) Wer soll dir noch irgendwas glauben?

Pause Bill!

Frage b) beantwortete sich von selbst, als Johnson nach verlorener Abstimmung in einem erneuten Wortbruch erklärte, er werde das Gesetz nicht zurückziehen, sondern erst einmal „pausieren“. Logischen Sinn ergab das erst einmal nicht, schließlich hat das Unterhaus ja eigens Zeit dafür freigemacht, das Gesetz zu debattieren. Stattdessen soll nun über die „Queen’s Speech“ von neulich (Regierungsprogramm) geredet werden, von der jede*r weiß, dass diese mangels Regierungsmehrheit nur als glorifiziertes Wahlprogramm zählt.

Rein theoretisch könnte es wohl passieren, dass die EU die Verlängerung nicht gewährt, aber selbst wenn diverse ach so patriotische Tories hoffen immer noch, Polen und Ungarn würde ihnen mit einem Veto zu Hilfe kommen: Dies wird’s nicht spielen.
Und wenn ich Labour, Libdems, die Remain-Fraktion bzw. die EU wäre, würde ich ab jetzt bei absolut jeder Gelegenheit darauf hinweisen: Es war einzig Boris Johnson, der gestern Abend im Unterhaus den Lauf der Withdrawal Agreement Bill und damit eines geordneten Brexit aufhielt.
Nur er.

Aber zurück zu oben gestellter Frage a): Nichts hat sich daran geändert, dass Johnson eine Zweidrittelmehrheit, also die breite Zustimmung der Opposition braucht, um eine Neuwahl zu beschließen. Innerhalb der Labour Party gibt es einen Konflikt zwischen Brexit-Schattenminister Keir Starmer, der erst ein zweites Referendum haben will, und Corbyn-Vertrauten wie Ian Lavery, die Neuwahlen abhalten wollen, obwohl Labour in allen Umfragen meilenweit abgeschlagen hinter den Tories liegt. Sie trösten sich vor allem damit, dass das 2017 auch nicht anders gewesen wäre, und alle Umfrage-Ergebnisse von Corbyn feindlichen Zentrist*innen erfunden seien.

Allerdings hatte Corbyn 2017 noch nicht mit seiner Brexit-Eierei die Jungwähler*innen enttäuscht, seinen Youthquake wird er sich also diesmal eher aufmalen können.

Falls sich dennoch, wie es derzeit aussieht, bei Labour die „Neuwahlen zuerst!“-Fraktion durchsetzt, werden wohl die entschieden gegen den Brexit auftretenden Libdems, teils vielleicht sogar die (in Unterhauswahlen vom Mehrheitswahlrecht bis auf Brighton zumeist neutralisierten) Greens Labour einiges an Remainer-Stimmen kosten.

Neuwahl: fünf Jahre Desaster-Kapitalismus oder more of the same

Die Tories wiederum sollten ebenfalls in Remain-Wahlkreisen an die Libdems bzw. in Schottland an die SNP verlieren. Ob sie dafür wirklich – wie von Johnson und seinem Strategen Dominic Cummings geplant – in Labour-“Heartlands“ Sitze zulegen können, hängt unter anderem vom Abschneiden von Nigel Farages Brexit Party ab. Wobei ich ja glaube, dass die bei Brexit-Ermüdeten meinungsbildende Tagespresse, wenn’s um Boris Johnson geht, ihren Liebling Farage einfach fallen lässt. Könnte gut sein, dass der Narr seine Schuldigkeit getan hat.

Unter Berücksichtigung all dessen würden die Tories aus einer Neuwahl mit ziemlicher Sicherheit als stimmenstärkste Partei, aber vermutlich nicht mit einer eindeutigen Mehrheit hervorgehen. Wenn doch, kommen fünf Jahre unverdünnter Desasterkapitalismus auf uns zu. Wenn nicht, bleibt alles genauso komplex wie jetzt. Schließlich sieht eine Labour/Libdem/SNP-Koalition unter den derzeitigen Parteiführungen völlig unmöglich aus. Es tut mir also leid, den Labour-Linken in meinem weiteren Bekanntenkreis widersprechen zu müssen, aber ich fürchte, Neuwahlen, die die ungeklärte Kernfrage Brexit mit all den anderen, vernachlässigten Themen vermischen, bringen derzeit rein gar nichts.

Wie gefährlich wäre dagegen ein Zweites Referendum zwischen dem „Deal“ und Remain, gefolgt von Neuwahlen (schließlich hat Johnson keine Mehrheit)? Eine Zitterpartie sicher, aber eindeutig gewinnbar, solange es der Remain-Seite nur endlich gelingt, den Leuten die praktischen Konsequenzen des „Deals“ von Boris Johnson zu erklären. Und wenn’s nur die seit neuestem auf jedem Flugticket und jeder internationalen Bahnkarte vermerkte Regierungsinfo ist, dass man nach dem Brexit für jede Fahrt nach Europa eine eigene Gesundheitsversicherung abschließen muss.

Egal wie so ein Referendum ausging, dann wäre jedenfalls sichergestellt, dass diesmal tatsächlich stimmt, was sie immer behaupten: The people knew what they voted for.

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