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LKW Stau an der britischen Grenze

APA/AFP/FRANCOIS LO PRESTI

ROBERT ROTIFER

Die Aussätzigen Europas

Großbritannien, immer einen Schritt voraus, selbst die Viren sind bei uns noch ein bisschen innovativer als bei euch. Zugegeben, mein Humor war schon besser, aber das hat auch seinen Grund: Bericht aus der Toilette Englands, in der sich nichts mehr bewegt.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Wo ich als Korrespondent im Englischen Südosten schon mitten im großen Ausbruchsherd der neuen Covid-Mutante sitze, nehm ich fast an, ihr wollt von mir wissen, wie die von der Nähe aussieht.
Ich hab natürlich keine Ahnung.

Meine erste Lektion der Covid-Krise war, dass auch die Aussagen von Wissenschaftler*innen nicht frei von lokalpatriotischen Färbungen sind.

In diesem Sinn:

Ich habe wohl die beruhigenden Worte von Christian Drosten gehört, der zumindest noch am Montag deutliche Skepsis zeigte, dass die neue Coronavirus-Variante tatsächlich – wie von der britischen Regierung behauptet – um 70 Prozent infektiöser sei. Und man braucht kein*e Verschwörungstheoretiker*in zu sein, um den Verdacht zu hegen, dass Boris Johnson und sein Gesundheitsminister Matt Hancock es mit der größeren Gefährlichkeit der Mutante in ihren alarmierenden Statements am Wochenende auch ein wenig überzogen haben könnten.

Schließlich hatte Johnson noch in der Woche davor – trotz offenen Widerspruchs aus dem akut überlasteten Gesundheitssystem – darauf bestanden, weitere Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens bis nach Weihnachten auszusetzen. Er brauchte also einen wirklich guten Grund, um in letzter Minute doch noch das Unvermeidliche zu tun, und über weite Teile Englands einen de facto-Lockdown zu verhängen (euphemistisch nannte er es „Stufe 4“ eines Teil-Lockdown-Systems, das bis dahin eigentlich nur drei Stufen kannte).

Aber ihr müsst mir glauben, die Wissenschaftler*innen, die man hier in den Medien sprechen hört, sind sich sehr sicher, dass sich das seit September geortete, „neue“ Virus tatsächlich so viel schneller verbreitet. Einige von ihnen behaupten sogar, Großbritannien zahle gewissermaßen den Preis dafür, die Mutante schneller als die Kolleg*innen in anderen Ländern aufgespürt zu haben.

So oder so sind wir hier jetzt einmal die Aussätzigen Europas.
Das hat auch seine Ironie nach den Ereignissen der letzten Jahre, fraglos.
Aber die im Folgenden beschriebenen Auswirkungen davon sind sehr real. So gern ich meine Depeschen hier mit Witzchen würze, beim Blick darauf, was sich gerade im englischen Südosten abspielt, sind sie mir vorübergehend ausgegangen.

Ich erwähne das in meinen Kolumnen ja nicht gerade zum ersten Mal, aber ich wurzelloses Wesen bin nicht nur ein Auswanderer aus Österreich, sondern auch ein DfL, kurz für „down from London“. Einer jener vielen Tausenden, die dem Wohnraum, der Luft und des Grüns wegen südostwärts nach Kent, in den in Fühlweite der Metropole gelegenen „Garden of England“ verzogen sind.

Gleichzeitig ist Kent aber auch sowas wie der Brenner von England. Schließlich muss die Hälfte der Fracht, die die Insel mit Lebensmitteln und Gütern versorgt, hier durch. Und wenn diese Karawane einmal ins Stocken gerät, wird aus dem Garten bald einmal die „Toilet of England“.

Ein kürzlich bei Vice erschienener Artikel vermittelt ziemlich eindringlich den Urin- und Fäkalgeruch, den der momentane LKW-Stillstand auf den Zufahrten zum Hafen von Dover bzw. dem Kanaltunnel in Folkestone erzeugt.

Die Beschreibung der dortigen Zustände bezieht sich aber bezeichnenderweise erst auf die Lage vor dem vergangenen Wochenende, als Frankreich auf die von der britischen Regierung verbreitete Nachricht von der Verbreitung einer mutmaßlich noch infektiöseren Covid-Mutation mit einer Sperre des gesamten Verkehrs zwischen Insel und Festland reagierte.

Nicht, dass meine feine Nase was von dem spezifischen Aroma des Verkehrsstillstands mitbekommen hätte. Canterbury liegt zwar an der zur Küste führenden A2/M2, zwanzig Minuten von Dover bzw. Folkestone entfernt, aber die LKWs verwenden überwiegend die ein paar Meilen westlich davon verlaufende, breitere M20, auf der derzeit die Sattelschlepper Nase and Stoßstange in Zweierreihen parken.

In jedem ihrer Führerhäuschen befindet sich ein Mensch, der essen, übernachten und menschlichen Bedürfnissen nachgehen muss. Und selbst nach offiziellen Angaben wurden die im Vorhinein groß angekündigten Mobilklos für Fernfahrer*innen bloß zwischen den zwei letzten Abfahrten der M20 in jeweils einem Kilometer Abstand aufgestellt. Wenn man nun pro LKW großzügig 20 Meter einrechnet, und das noch in Zweierreihen, ergibt das ein Klo pro 100 Leute.

Etwas mehr Bedürfnisanstalten, aber sonst so gut wie gar nichts, gibt es auf dem stillgelegten Provinzflughafen von Manston. Dessen Rollbahn wurde temporär zu einem Parkplatz für 4000 LKWs umfunktioniert. Ein größeres, im Volksmund bereits „Farage Garage“ genanntes Areal nahe Ashford könnte nämlich wegen des schweren Regens der letzten Wochen nicht rechtzeitig zur Brexit-Deadline befahrbar asphaltiert werden.

Regen im englischen Winter, wer hätte damit gerechnet?

LKWs an der Grenze von GB

APA/AFP/William EDWARDS

LKWs parken auf dem Rollfeld des Manston Airport nahe Ramsgate

Kein Wunder also, dass die in Manston festsitzenden Fernfahrer*innen heute, am dritten Morgen der Blockade, zum Protest ein halbstündiges Hupkonzert abgehalten haben.

Ebenso verständlich, dass ihre auf der Autobahn stationierten Kolleg*innen uns sprichwörtlich die Landschaft vollscheißen.

Detto nachvollziehbar, dass es in Dover bereits zu ersten Unstimmigkeiten zwischen Trucker*innen und der britischen Grenzpolizei gekommen ist.

Und geradezu symbolhaft, dass - während die örtlichen Gemeinden gestrandeten LKWs zum Zeichen der britischen Gastfreundschaft auch noch Parkstrafen aufdonnern - ausgerechnet eine eingewanderte Community das einzig bisher erkennbare Zeichen der menschlichen Anteilnahme setzte.

Aus der deindustrialisierten Stadt Gravesend, einem der ärmsten Winkel von Kent, fuhr eine Abordnung dort angesiedelter Sikhs gestern Nachmittag mit ihren Langar Aid-Lieferwägen runter zum Hafen von Dover und versorgte dort die Wartenden, darunter nicht nur LKW-Fahrer*innen, sondern auch ganze Familen in Reisebussen mit warmem Essen.

Inzwischen hat Frankreich sich bereit erklärt, Fahrer*innen, die einen negativen Covid-Schnelltest absolviert haben, einreisen zu lassen. Es liegt nun an den britischen Behörden, diese Tests vorzunehmen, aber selbst wenn sie sich dabei ordentlich ins Zeug legen, wird es bis nach Weihnachten dauern, den Stau aufzulösen. Wenn überhaupt, denn dann folgt als nächster Hammerschlag bekanntlich – ich hör euch stöhnen – das Ende der Brexit-Übergangsperiode mit seinen neuen Zoll-Schikanen, die erst recht für enorme Verzögerungen sorgen werden.

Doch während ich das hier schreibe, ist der Hafen von Dover ohnehin komplett geschlossen. Wegen Protesten der LKW-Fahrer*innen, wie es heißt.
Deren Unmut kann allerdings nur wachsen, denn die erwähnten Covid-Tests zur Überfahrt nach Calais werden derzeit unfassbarerweise nur auf dem 26 verstaute Meilen entfernten LKW-Parkplatz in Manston vorgenommen. Dabei stehen die Vehikel in Dover eigentlich am Anfang der Schlange.

Natürlich geben die britischen Behörden Frankreich die Schuld an all dem Chaos, aber ich habe doch einiges Mitgefühl mit dem Mann, den ich gerade in den Radionachrichten in slawischem Akzent „You – Are – Stupid – People!!!“ in Richtung der britischen Polizei rufen hörte.

Denn selbst wenn diese Sperre von französischer Seite sehr plötzlich kam, wurden doch schon zuvor für den Jahreswechsel Brexit-bedingt Schlangen von 7000 LKWs vorhergesagt, ein Szenario, vor dem das National Audit Office (so eine Art Rechnungshof) die eigene Regierung schon Anfang November eindringlich gewarnt hatte.

Die Food & Drink Federation, Dachverband der Lebensmittelindustrie, sprach damals wiederum von einem ernsthaften Risiko für die Nahrungsversorgung des Vereinigten Königreichs, und trotzdem hat nicht nur die Regierung Johnson, sondern übrigens auch Keir Starmers Labour Party beharrlich jede Aussicht auf ein Ansuchen um eine Pandemie-bedingte Notverlängerung der Brexit-Übergangsfrist in den Wind geschlagen.

Ja neulich hat Boris Johnsons Cabinet Office sogar Fördermittel zum Aufstellen zusätzlicher französischer Passkontrollen verweigert, eine sagenhaft kleinliche Entscheidung, die die prognostizierten Staus noch erheblich verlängern wird.

Die schiere Verantwortungslosigkeit dieser Regierung ist schlicht atemberaubend, und doch würde Johnson nach jüngsten Umfragen auch morgen wieder von rund 40 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung gewählt werden, genug um seine derzeitige Mehrheit zu behalten.

Schon wahr, mit PR allein lassen sich keine Seuchen bekämpfen, Handelsverträge vereinbaren oder selbstverschuldete Katastrophen verhindern. Aber zum Machterhalt reicht PR offenbar allemal.

Das blieb mir von all dem als Erkenntnis, und nachdem jene schon seit einer Weile gedämmert war, hab ich über die letzten paar Wochen in der Garage eine ziemlich stattliche Sammlung von Suppendosen angelegt.

Zweimal Tomatensuppe hier, zweimal Linsensuppe da, nicht zu viel auf einmal, man will ja nicht durch Hamsterkäufe Engpässe verursachen.

Ich kam mir dabei zwar selber ein bisschen paranoid und übervorsichtig vor, aber auf die Idee, dass irgendwann einmal die Lufthansa aus Deutschland Obst und Gemüse einfliegt, damit den britischen Supermärkten nicht der Nachschub ausgeht, wär ich auch nicht gekommen.

Wünsche einstweilen noch ein frohes Fest!

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