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Gina Disobey

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Protestsongcontest 2021: Gina Disobey gewinnt!

Wuchernde Monsteras, Applaus aus der Dose und Gruppentherapie: Der Protestsongcontest ist zum ersten Mal virtuell über die Bühne gegangen – zumindest für Publikum und Künstler*innen. Nach fast drei Stunden musikalischem Protest in all seinen Facetten steht die Siegerin fest: die Tirolerin Gina Disobey.

Von Melissa Erhardt

Alles anders im Jahr 2021: Einen selbst gebastelten Protestsongcontest-Pokal hat es bisher ebenso wenig gegeben wie einen (fast) leeren Saal: Im Rabenhof vor Ort halten nur der langjährige PSC-Moderator Michael Ostrowski zusammen mit der Jury die Stellung. Die Songs der Künstler*innen, die davor großteils im RadioKulturhaus aufgezeichnet worden sind, werden auf einer Videoleinwand abgespielt, sie selbst melden sich dann via Skype zu Wort. Und eins kann man hier gleich sagen: Was an Buh-Rufen und Bierschüttungen aus dem Publikum dieses Mal zu kurz kommt, macht jede Menge „Applaus aus der Dose“ und eine große Abwechslung an Zoom-Hintergrund-Einrichtungen wieder wett: Von hippen Wohnzimmern mit wuchernden Monsteras und schicken Vintage-Sideboards über „Obstzimmer“, Geldwäschereien, „relativ durchschnittliche Mitt-20er-WGs“ bis hin zum Kalb im Kuhstall live aus Saalbach-Hinterglemm ist alles dabei. Auch auf den Arbeiter*innen-Chor wollte man nicht verzichten, weshalb es gleich zu Beginn eine Aufnahme vom PSC aus dem Jahr 2019 gibt, als der Chor „Bella Ciao“ und „Die Arbeiter von Wien“ zum Besten gab.

Message Control Contest

Die eigentliche Liveveranstaltung beginnt schließlich mit einem gut gelaunten Michael Ostrowski inklusive Sarkasmus der feinsten Sorte: „Willkommen zum Message Control Contest! Und nur damit das von Anfang an klar ist: Gernot Blümel hat nichts zu verbergen und es hat natürlich nie Spenden von Glücksspiel-, Waffen- oder Tabakunternehmen an die ÖVP gegeben.“ In der Jury sitzen heuer – neben dem Protestsongcontest-Urgestein Martin Blumenau – die Rapperin und Poetry-Slammerin Yasmo, die Liedermacherin und ehemalige PSC-Gewinnerin Sigrid Horn, die Künstlerin und Veranstalterin Simone Dueller, der Musiker Bobby Slivovsky von 5/8erl in Ehr’n und der Liedermacher Max Schabl.

Für Ostrowski und die Jury kommt der Abend, wie sie später sagen werden, durch seine Intimität einer Art Gruppentherapie gleich: Protestiert wird gegen Seilbahn-Vorstände in Ischgl, schamlose Selbstbedienungsmentalität und Korruption in der österreichischen Spitzenpolitik, gegen die europäische und österreichische Flüchtlingspolitik, aber auch gegen zeitlose Themen wie den Kapitalismus, die Leistungsgesellschaft oder die Selbstinszenierung in den Sozialen Medien: „Eine gute Zusammenfassung des letzten Jahres“, meint Sigrid Horn.

Nach circa drei Stunden, zehn Acts, viel emotionaler Arbeit und einem (ebenfalls eingespielten) Auftritt des Vorjahres-Siegers Dynomite steht schließlich die Siegerin - fast unisono - fest: Gina Disobey, die mit dumpfen synthiegeladenen Beats in Spoken-Word-Manier über die Unmenschlichkeit im österreichischen Asylsystem mehrere Nerven gleichzeitig trifft: „Der Song haut in die Magengrube. Den kann ich aber auch im Club hören, da kann ich auch bei der Demo mit zurufen – das ist einfach ein Protestsong“, ist sich die Jury einig.

PSC Gewinnerin 2021 Gina Disobey

@rocdomingo

Sollen sie doch Kuchen fressen

Den Anfang macht an diesem Abend Johannes Molz aka null, der später aus Deutschland zugeschalten wird. Wären wir in den guten alten Zeiten, würde sich bei seinem Punk-Song „Elon Musk arbeitet 95 Stunden am Tag“ der Rabenhof in einen riesigen Moshpit verwandeln. So aber bleibt uns nichts anderes übrig, als daheim vor dem PC headzubangen. Das Ziel seiner Kapitalismuskritik: Elon Musk. „Der Typ macht Kapitalismus sexy, das ist das Problem.“ Die Jury wird damit gleich auf den restlichen Abend vorbereitet.
Simone Dueller: „Mich hat das Lied im ersten Moment richtig nervös gemacht, das ist eigentlich genial, weil so geht’s mir mit dem kapitalistischen System: So außer Atem sein, überrollt werden, genau so geht’s mir mit dem Kapitalismus.“
Max Schabl: „Elon Musk wird der Song ziemlich wurscht sein, aber vielleicht kann die Arbeiterklasse was damit anfangen.“

Sanft-subtiler Protest von Nelavie

Weiter geht’s mit der Pianoballade „Teilzeit-Feminist“ von der niederösterreichischen Singer/Songwriterin Nelavie, die in der Jury großen Eindruck hinterlässt und im Endergebnis knapp hinter der Siegerin Gina Disobey landet. Nelavie wünscht sich, dass gerade das eigene Handeln im Privaten besser reflektiert werden muss, wo sich das Patriarchat noch viel zu oft durchschlingelt: „Wir haben immer noch blinde Flecken. Feminismus ist nicht nur ein Etikett, das man sich einmal draufklebt. Es muss sich ständig was bewegen.“
Bibby Slivovsky: „Ich mag ihren Humor. Es ist charmant aber du kriegst trotzdem a Watschn.“
Yasmo: „Eine große Genugtuung für die ganzen One-Night Stands, wo man vortäuschen musste.“

Live aus dem Tiroler Kuhstall

Live aus dem Kuhstall inklusive Kalb und zusätzlicher Strophe geht es mit dem „primitiven Möchtegern-Künstler“ Marcus Hinterberger weiter. So wurde er zumindest von einer Tiroler Seilbahngesellschaft bezeichnet, nachdem er in seinem „Ischgl-Blues“ Zeilen wie: „I leg auf an schlechtn Schloga und nenn des Ganze Aprés-Ski, es ist wurscht, wenn des bergob geht, weil i Vorstand von der Seilbahn bin“ zum Besten gegeben hat. Das Publikum kann er mit seiner humorvollen Abhandlung über das derzeit wohl prominenteste Bundesland Österreichs überzeugen, das Lied scheitert aber, trotz Begeisterung, an einem ungeschriebenen Gesetz des PSC.
„Eigentlich sollte man keine Coverversionen machen am PSC. Und das ist ganz eindeutig eine Coverversion des ‚Folsom Prison Blues‘ von Johnny Cash“, so Martin Blumenau.
Max Schabl: „Es erinnert an Johnny Cash, aber auf jeden Fall eine super Antwort auf ‚Tirol hat alles richtig gemacht‘."

Ein Protestsong wie aus dem Buche

Als vierter Act tritt diejenige auf, die am Ende des Abends den Award mit nach Hause nehmen wird: Gina Disobey. Bei ihr ist der Name Programm: „There is a lack of legislation for people like me with no nation, the only thing I want is to leave, get my documents, go catch my dream“, heißt es in “Seeking Asylum Is Not A Crime”, kurz bevor sich die Hook in eine industriegeladene Atmosphäre mit flirrenden Synthies und vibrierenden Bassgitarren auflöst. Entstanden ist der Song 2019, als es zu Protesten im Tiroler Rückkehrzentrum Bürglkopf gekommen ist, das von Amnesty International als ‚abgelegen, isoliert und besonders für Kinder ungeeignet‘ beschrieben worden ist. Die Zitate aus den Songs stammen von Interviews, die Gina mit Geflüchteten selbst geführt hat. Es überrascht, dass das ihr erster Song ist und ihr erster Auftritt überhaupt.

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Simone Dueller: „Kennts ihr das Gefühl, wenn man auf die Knie geht bei einem Lied, weil es so reinfahrt? Das ist so ein Song. So viel Kraft dahinter, Protestkraft, aber auch Liebe, Wahnsinn.“

Eher Analyse als Protest

Die goldene Mitte ist an diesem Abend eine Hälfte von Manfred Groove: Milf Anderson, der uns aus seinem „Obstzimmer“ in Berlin begrüßt. Auf „Es geht uns gut“ sampelt das Deutschrap-Duo den Song „Danke Gut“ von Eins Zwo. Mit dabei: Roger von Blumentopf. Mit Lines wie „Ich steh mit Nikes in der Küche und schlürfe Fairtrade-Kaffee / Mir kommen die Tränen, wenn ich das Leid auf meinem Fernseher seh / Oh Gott, Xavier hatte Recht, es wird ein sehr schwerer Weg / doch meine Apple-Watch bestätigt, dass mein Herz noch schlägt“ sagen sie den auf Selbstinszenierung versessenen „Aktivist*innen“ auf Instagram und Co. auf klassischem Boom-Bap-Kopfnicker-Beat den Kampf an. Während Milf Anderson seinen Song eher als Analyse denn als Protest sieht, diskutiert die Jury darüber, ob das noch Sampling oder schon Copying ist.
Martin Blumenau: „Das ist halt eine Coverversion von Eins Zwo, minimal umgetextet.“
Sigrid Horn: „Innerlich laborier ich noch immer an der Idee eines Obstzimmers.“

Der Kunstmarkt als kapitalistische Metapher

In der zweiten Hälfte des Abends geht es schnurstracks weiter mit Kapitalismuskritik vom Feinsten: Der „Viktoriabarsch“ ist vielleicht der „abstrakteste“ Song des Abends. Trotzdem oder genau deswegen überzeugen Verena Dürr und Smashed to Pieces mit Abhandlungen über Börsenwertsteigerungen, Kunstmärkte als Kapitalinvestition und die Mündung des politischen Futurismus in den Faschismus. Zu der simplen Basedrum-Snare-Abfolge des Anfangs mischen sich bald verzerrte E-Gitarren und verzogene Synthies, wenn es heißt: „Jedem Ding sein Gott, und alles ist mehr wert und weil alles Mehrwert ist, ist nichts von Bedeutung.“

Max Schabl: “Mainstream klingt anders.”
Simone Dueller: „Das ist genau mein Lied. Ich bin eines der größten Fangirls von Verena Dürr.“

S. D. O.

Von einem Newcomer kann man bei Dassi nicht mehr sprechen: Der 27-Jährige hat bereits Tracks auf Englisch, Algerisch und Französisch veröffentlicht – mit S.D.O. („Schleich dich du Oaschloch“) hat er erstmals einen Song auf Deutsch releast, mit dem er die Terrorattacke in Wien aufgearbeitet hat. Die Message dahinter: „Egal, was passiert, was wichtig ist, wenn du das Blut und die Toten siehst, wir bleiben stark, wir bleiben united gegen den Hass.“ Für die Jury ein Volltreffer, bei dem einzig der Songtitel zur Diskussion angeregt hat.
Yasmo: „Ein sehr starker Song und eine gut gelungene Brücke zwischen ‚Da ist echt Scheiße passiert‘ und ‚Fanatismus hat hier keinen Platz‘."

Ein Song in Julia-Engelmann-Manier

Eine akustische Gitarre gepaart mit einer klaren, ausdrucksstarken Stimme, die Europa zum Handeln auffordert: Das ist der Protestsong der norddeutschen Liedermacherin Gesa Winger. „Wo bist du, Europa, wenn an deinen Küsten Menschen stranden, keiner scheint im Stande was zu tun“, singt sie, fragend, hilflos und bestürzt zugleich. Für die Jury ist der Song dann doch etwas zu rund, zu ‚schön‘.
Simone: „Es ist ein Song, der perfekt, melodisch und zart daherkommt, aber sie singt von Kindern, die vor dem Krieg flüchten. Das ist, wie wenn jemand in Julia-Engelmann-Manier politische Texte singt.“
Martin: „Das ist ein bissl zu allgemein und ein bissl zu wenig kritisch.“

Was für eine komische, kleine Republik

Vom Wiener Rapper Fellowsoph, der unter anderem durch „Rap am Mittwoch“ und das Label Heiße Luft bekannt ist, bekommen wir heute vor allem eins: Realtalk. Spätestens nach der Intro-Line „Mittelfinger an Kurz und die Bagage“ ist klar, worauf Fellowsoph auf „Tu Felix Austria“ hinaus will: Angeprangert wird die „schamlose Selbstinszenierungsmentalität“ und Bestechlichkeit der österreichischen Politikerriege – eine, wie soll man sagen, äußerst heikle Angelegenheit. Durch die scharfe Wortwahl wirkt sein Protestsong eher wie der finale Punch bei einem Rap-Battle: Fellowsoph vs. Kurz & Co. Im Zoom-Gespräch danach wird Geld gebügelt und Karl-Heinz Grasser gedacht.
Bibby Slivovsky: „Wenn bei jeder PK ein Piratensender reinkommt und es spielt Fellowsoph, bin ich glücklich.“
Yasmo: „Es ist cool und swaggy. Es ist am Flexen.“

Mundart-Pop gegen die Klima-Apokalypse

Die Band Nelio liefert uns zum Schluss des Abends nochmal eine kräftige Portion politökologischen Pop: Die irische Sängerin Catrina Cassidy switcht auf der Nummer „Feuer“ gekonnt zwischen Dialekt und Hochdeutsch, während sie mit Zeilen wie „Die Erde schreit, Ausbeuterei, olle wuin mehr, zu vüle Leit“ auf den Klimawandel aufmerksam macht. Auch wenn es diesmal nicht geklappt hat, einen Ohrwurm haben uns die Musiker*innen auf jeden Fall hinterlassen.
Simone Dueller: „Das Video war jetzt anders als das Soundfile, aber das war großartig. Ich bin ein großer Fan von Brüchen und Widersprüchen und da wurde 80s-Synthie-Sound gebrochen durch Dialekt, gebrochen durch politische Themen.“

So hat die Jury abgestimmt!

Chili Gallei

So hat die Jury abgestimmt.

Gina Disobey gewinnt den Protestsongcontest 2021

Gleich vier Mal holt sich die Tiroler Künstlerin Gina Disobey bei der Jurywertung die Höchstpunktezahl und gewinnt mit 17 Punkten Vorsprung den Protestsongcontest. Und das als absolute Newcomerin: Gina Disobey ist noch nie als Sängerin auf einer Bühne gestanden und ihr Protestsong „Seeking Asylum Is Not A Crime“ ist ihr allererster Song überhaupt. Entstanden ist die Nummer im Rahmen von Protesten im umstrittenen Tiroler Rückkehrzentrum Bürglkopf, als sich 17 Asylwerber*innen in den Hungerstreik begeben haben, um gegen ihre Unterbringung in dem entlegenen Haus auf 1.300 Meter Seehöhe zu protestieren. Gina Disobey war auch selbst vor Ort und hat mit den Menschen dort Interviews geführt, die zitatweise in den Songtext eingeflossen sind.

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