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Buch: Matthias Jügler "Die Verlassenen". Auf dcem Cover wirft ein Mann einen Jungen in die Luft

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Wie die DDR nachwirkt: Matthias Jüglers Roman „Die Verlassenen“

Matthias Jügler nähert sich dem Unrechtsstaat DDR aus der Perspektive eines Nachgeborenen, der den alltäglichen Schrecken des Regimes nicht mehr bewusst mitbekommen hat. Ein bedrückender, vor allem aber ungemein spannender Roman

Von Simon Welebil

Für ein Kind gibt es wohl kaum eine schlimmere Vorstellung, als seine Eltern zu verlieren. Matthias Jügler stattet seinen Protagonisten im Roman „Die Verlassenen“ aber nicht nur mit so einem harten Schicksal aus, er lässt ihn auch unwissend zurück.

Buch: Matthias Jügler "Die Verlassenen". Auf dcem Cover wirft ein Mann einen Jungen in die Luft

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Matthias Jüglers Roman „Die Verlassenen“ ist im Penguin Verlag erschienen.

„Das letzte Mal habe ich meinen Vater im Juni 1994 gesehen.“ Mit diesem Satz beginnt der Ich-Erzähler und Protagonist Johannes Wagner seine Erinnerungen zu sortieren. Es ist Juni 1994, fast vier Jahre nach dem Ende der DDR und der Halbwaise Johannes befindet sich mit seinem Vater in ihrer Gartenlaube in der Nähe von Halle an der Saale. Der Vater hat ein überreiches Frühstück vorbereitet, das so gar nicht zu ihren Gewohnheiten passt, es bleibt aber nicht die einzige Überraschung an diesem Vormittag. Statt zur Arbeit zu gehen, oder ihn in die Schule zu bringen, bleibt der Vater nämlich einfach auf der Hollywoodschaukel sitzen. Der sonst so schweigsame Mann führt mit Johannes ein ewig langes Vater-Sohn-Gespräch, in dem er ihm die Welt erklärt. Zu Mittag fahren sie ins Restaurant. Dann bringt er ihn zu seiner Großmutter in Halle an der Saale, drückt ihn, sagt „Mach’s gut Junge“ und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.

Bereits mit dem ersten Kapitel hat Matthias Jügler seine Leser*innen am Haken. So ein heftiger Einschnitt ins Leben ohne Erklärungen wirft viele Fragen auf. Antworten bekommen wir vorerst aber keine, nur Ausreden. Jügler lässt viele Jahre vergehen, in denen Johannes seltsame Krankheiten befallen, er zum Eigenbrötler wird, der später einen langweiligen Job in der städtischen Verwaltung annimmt. Doch ebenso profan wie zu Beginn leitet Matthias Jügler dann die nächste Phase ein.

„Kein Mensch ist vor den Momenten sicher, in denen sich alles von Grund auf ändert und das eigene Leben plötzlich in völlig anderen Bahnen verläuft als erhofft.“

Ein Brief verändert alles

Ein solcher Moment erreicht den erwachsenen Johannes in Form eines Briefes, den er versteckt in einem der Bücher seines Vaters findet. Über den Inhalt erfahren wir wenig, aber ab diesem Zeitpunkt ändert sich nicht nur Johannes’ Leben, sondern auch die Struktur des Textes. Das chronologische Erzählen weicht einem Vor- und Zurückspringen, glückliche Kindheitserinngerungen aus den letzten Jahren der DDR wechseln sich ab mit einem Coming-of-Age unter widrigsten Umständen und Momenten aus einer weniger glücklichen Beziehung.

Der Brief lässt Johannes jedenfalls zu einer überstürzten Reise nach Norwegen aufbrechen und führt ihn dann über weitere Umwege in die dunkelsten Kapitel der DDR.

Geheimnisvoll, irritierend, schockierend

Autor Matthias Jügler bleibt in seinem Roman „Die Verlassenen“ stets geheimnisvoll. Er gibt immer nur spärliche Hinweise über die Vergangenheit, irritiert, schockiert und legt jede Menge falscher Fährten. Damit hält er die Spannung konstant hoch, bis er gegen Ende des Buches eine Bombe platzen lässt.

Es ist eine traurige und erschütternde Geschichte, mit wahrem Hintergrund, durch die klar wird, dass die Geschichte der DDR noch länger nachwirken wird und auch die Leben der Nachgeborenen noch weiter prägen wird. Schweigen kann auf jeden Fall nicht der richtige Umgang mit der Vergangenheit sein. Erst mit der Wahrheit kann man versuchen, sie aufzuarbeiten, um zu verstehen, um zu verzeihen, um voranzukommen.

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