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IDER und ihr neues Album "shame"

Dani Monteiro

IDER und ihr neues Album „shame“

Das Duo IDER aus London wartet auf dem Album „shame“ mit großen Hooks und brutal ehrlichen Lyrics auf. Auch schon mal beim Sex an jemand anderen gedacht? Genau das.

Von Christian Lehner

Performance ist alles. Empowerment ist auch alles. Die neue diverse Popkultur leidet zunehmend daran, dass sich diese beiden Facetten einer Popkarriere immer häufiger gegenseitig im Weg stehen. Wenn Billie Eilish stellvertretend für die Anliegen ihrer Generation singt und sich inszeniert, auf allen dafür zur Verfügung stehenden Kanälen und über ihre Musik für Bodypositivity, Nachhaltigkeit und Gleichstellung der Geschlechter eintritt, so tut sie das vor einer kritischen Öffentlichkeit der unendlich vielen Smartphones, die sich gerne in ihren Anliegen bestärken lässt, ihren Star jedoch mit Argusaugen beim Repräsentieren dieser Anliegen überwacht und bei (vermeintlichen) Verstößen diszipliniert.

So hat es Eilish in Sachen Unverständnis und Shaming nicht nur mit den üblichen Verdächtigen zu tun (Eltern, „Alte Weiße Männer“, Incels etc.), sondern mit ihren eigenen Fans, die dem derzeit einzigen jungen Popstar von Weltformat in den letzten Monaten vor der Veröffentlichung ihres neuen Albums „Happier Than Ever“ so einiges vorzuwerfen hatten. Queerbaiting, Appropriation afroamerikanischer Kultur, Verrat an der Bodypositivity, lauteten die Anklagepunkte. Popstars müssen sich schon länger einer neuen Front stellen. Billie Eilish schlägt sich diesbezüglich tapfer, zerdrückt am Cover ihres neuen Albums aber auch eine besonders große Träne.

Performen und Empowern

Für das Pop-Duo IDER aus London bleibt Eilish weiterhin eine Bezugsgröße. Auch Lily Somerville und Megan Markwick setzen sich in ihren Texten mit dem Jung- und Frausein in diesen Zeiten auseinander. Und auch IDER wählen für die Form einen nach allen Seiten ergebnisoffenen Popsound. „Billie und ihr Bruder Finneas haben etwas entwickelt, das es im Pop so bisher noch nicht gegeben hat“, sagt Megan Markwick im FM4-Interview. „Diese Verbindung zwischen zarter Creepiness und Pop ist einzigartig.“

IDER und ihr neues Album "shame"

Dani Monteiro

Auch IDER ist es gelungen, über zwei Alben einen unverkennbaren Sound zu kreieren. Als Ausgang dient der harmonische Gesang der beiden. Untenrum wummert Tanzbares. Oben kommen gekonnt gesetzte Hooks und Refrains zum Mitsingen drauf. Die Lyrics speisen sich aus den endlosen Tischgesprächen von Megan und Lily und es geht um alles: Beziehung, mentale Gesundheit, „fucking the system“ (Markwick) und den realen Geschlechtsverkehr. “I hate that I’m sitting on top of your body thinking ’bout someone else / Fucking with my eyes shut”, heißt es etwa im Song “cbb to b sad”.

“Diese Themen sind noch immer tabu, weil man sich schämt, solche Gedanken zu haben“, meint Lily Somerville, „dabei sind das Gedanken, die wohl fast alle schon einmal hatten: Du stürzt dich zu schnell in eine Beziehung, oder du erkennst, dass sie schon längst am Ende ist“.

„Shame“ ist der Titel des neuen IDER-Albums. Lily fasst die Kernaussage so zusammen: „Share shame to scare shame“. Wie am Vorgänger soll dieses Album möglichst lebensnah bestärken und den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft den Mittelfinger entgegenstrecken. Perfekter Lebenslauf, perfekter Körper, perfekte Moral my ass!

Den Songs von IDER wohnt ein unverkennbares Sendungsbewusstsein inne. Die britische Musikpresse schwärmte beim Debütalbum „Emotional Education“ (2019) von einem Album, das die Stimmungslage junger Menschen in Großbritannien perfekt einfangen würde. „Emotional Education“ war ein Stresstest für Millennials.

Weg vom Major-Label

Lily und Megan haben sich 2012 auf einer Kunstuni in Cornwall gefunden. Nach dem Umzug vier Jahre später in die gemeinsame Wohnung nach London erschien die EP „Gut Me Like an Animal“. Das Major-Label Glassnotes ließ sich nicht von dem Titel abschrecken und signte IDER. Doch schon kurz nach Erscheinen von „Emotional Education“ lösten Megan und Lily, nach ihrer Auskunft auf eigenen Wunsch, den Vertrag auf.

„Das ist einfach nicht unsere Welt“, so Lily Somerville, „der Druck in Bezug auf Studiozeit, das ständige Reinreden in den kreativen Prozess.“ „Wir wollen die Dinge schnell und enthusiastisch nach vorne bringen, mit einem Riesenhunger, aber der lässt sich in den Strukturen eines Majors nicht stillen“, ergänzt Megan Markwick. Im Song „Bored“ haben IDER Industrie-Dampf abgelassen: „Yeah, I’m bored of your ego, I’m bored of your shame, I’m bored of you forgetting my name.”

Berlin-Trip und Selbstermächtigungshymnen

Nach dem Aus bei der Plattenfirma packten Lily und Megan ihre Sachen und begaben sich Anfang 2020 auf eine Art Thelma & Louise-Abenteuer-Trip. Sie schlugen zunächst bei Freunden in Berlin-Friedrichshain auf. Dort taten sie, was junge Menschen in Berlin nun mal so tun. „Aber wir haben auch sofort nach der Ankunft damit begonnen, Songs zu schreiben und sie selbst zu produzieren“, so Markwick. „Das war uns wichtig. Wenn wir schon auf uns selbst gestellt waren, wollten wir auch Kontrolle über den gesamten kreativen Prozess haben und so lernten wir zu producen.“

IDER und ihr neues Album "shame"

IDER

„Shame“, das neue und zweite Album von IDER ist im Eigenverlag erschienen. Hier geht’s zum Interview-Podcast mit Lily und Megan.

Dann kam die Pandemie über die Welt und Lily und Megan steckten sich mit dem Coronavirus an. Beide hatten für junge Menschen ziemlich schwere Verläufe. „Das war schlimm. Niemand wusste zu dem Zeitpunkt, was da eigentlich läuft“, erzählt Lily Somerville. „Wir haben uns richtig dafür geschämt und zunächst niemanden aus unseren Familien etwas erzählt.“

Als die zwei die Krankheit auskuriert hatten, zeichneten sich in Europa die ersten Lockdowns ab. IDER wussten, wenn sie jetzt nicht nach London zurückkehrten, würden sie es vielleicht sehr lange nicht in ihre Heimat schaffen. „Also luden wir unseren Kram und das Studio-Equipment in unseren Van und fuhren los“, so Markwick. „Es war ein abenteuerlicher Trip durch fünf Länder mit einer Menge Kontrollen, aber wir haben es geschafft.“

„Shame“ ist mit schlanken acht Songs im Eigenverlag von IDER erschienen – ein sehr mutiger Schritt, den das Resultat aber rechtfertigt. Mit der totalen Unabhängigkeit büßen IDER zwar enorm an Reichweite ein, erweisen sich aber auch als Hüterinnen ihrer eigenen Ansprüche, die sie immer wieder in den Songs formulieren.

Vielleicht ist das manchmal ein bisschen zu viel Betroffenheitslyrik und „TMI“ (too much information), wenn es um das Privatleben zwischen Küchentisch und Bettkante geht, aber IDER müssen sich für dieses Album wahrlich nicht schämen. Für diese Hooks, Melodien und Harmonien würden Popstars noch immer killen. Und wer weiß, vielleicht wäre Billie Eilish ein bisschen eifersüchtig auf die zwei independent spirits von IDER, die nicht viel müssen, aber alles dürfen.

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