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Seitenwechsel, Passing

Netflix © 2021

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„Seitenwechsel“ ist mehr als ein Rassismus-Drama in Schwarz-Weiß

Die Schauspielerin Rebecca Hall verfilmt bei ihrem Regiedebüt den Roman „Passing“ der Autorin Nella Larsen. „Seitenwechsel“ ist eine filmische Identitätssuche im New York der 20er Jahre, der den Schauspielerinnen Ruth Negga und Tessa Thompson eine Oscar-Nominierung einbringen könnte.

Von Philipp Emberger

Seitenwechsel, Tessa Thompson, Ruth Negga

Netflix © 2021

„Things aren’t always what they seem“ sagt Irene (Tessa Thompson) auf einer Party und deutet damit etwas an. Es bleibt nicht die einzige Andeutung im Film der britischen Schauspielerin und Neo-Regisseurin Rebecca Hall, der Film verhandelt vieles im Subtilen. Irenes Gesprächspartner mustert in diesem Moment die „blonde Märchenfee“ Clare (Ruth Negga), die auf einer Party zum Sound der 20er-Jahre das Tanzbein schwingt, und interessiert sich für deren familiären Hintergründe, die etwas anders sind als es der erste Blick verraten würde.

„Seitenwechsel“ ist in New York City angesiedelt und Jazz gehört zu der Zeit ebenso zur Weltmetropole wie die strikte Trennung der Gesellschaft. Auf der einen Seite der Stadt, in den ökonomisch besseren Teilen Manhattans, ist die Weiße Oberschicht daheim. Nur wenige Blocks weiter nördlich ist die andere Seite: Harlem, afroamerikanisches Zentrum und Heimat von Irene, ihrem Schwarzem Ehemann und den beiden Söhnen. Aber es gibt sie, diejenigen, die die Seite wechseln – und das nicht nur in geographischem Sinne. Irenes alte Schulfreundin Clare ist eine von ihnen.

„Passing“

Der Filmtitel (im englischen Original „Passing“) bezieht sich auf das soziologische Phänomen des Passings und beschreibt, wenn soziale Identität nicht aufgrund von äußeren Merkmalen für Außenstehenden erkennbar ist. Dazu gehören etwa Geschlecht, Klasse oder ethnische Zugehörigkeit und ermöglicht als Mitglied einer Identitätsgruppe wahrgenommen zu werden, die sich möglicherweise von der eigenen unterscheidet. Damit fallen auch Erwartungen und gesellschaftliche Normen an die jeweiligen Personengruppen weg und Menschen können an sozialen Räumen partizipieren, die ihnen vorher verwehrt gewesen waren.

Seitenwechsel, Tessa Thompson, Ruth Negga

Netflix © 2021

Ruth Negga als Clare in „Seitenwechsel“

Clare ist genauso wie Irene hellhäutig und wird von ihren Mitmenschen nicht sofort als Women of Colour gelesen. Das ermöglicht ihr als Weiße „durchzugehen“, eine Entscheidung die sie des Status- und Geldwillens getroffen hat und sie die Wurzeln zu ihrer Vergangenheit hat kappen lassen. Obwohl Irene in der Black Culture verwurzelt ist, wechselt auch sie fallweise die Seiten, etwa wenn sie Besorgungen in Manhattan macht und in noblen Restaurants verkehrt, ein Privileg, das überwiegend der Weißen Bevölkerungsschicht vorbehalten war. Clare hat im Gegensatz dazu trotz, oder gerade wegen ihres afroamerikanischen familiären Hintergrundes, die Seiten dauerhaft gewechselt und lebt in der Weißen Gesellschaftsschicht. Mittlerweile ist die freiheitssuchende junge Frau verheiratet mit dem Weißen John (Alexander Skarsgård), der sein rassistisches Weltbild auch nicht gerade verbirgt. Dieser wiederum weiß nichts von den familiären Hintergründen seiner Frau Clare.

Goldträume

Die Award-Season legt an Tempo zu und so ist es auch mit den Spekulationen über mögliche Nominierte. Die Namen der beiden Darstellerinnen, Tessa Thompson und Ruth Negga, tauchen in diesem Zusammenhang auch immer häufiger im Oscar-Spekulationsspiel auf. Wenig verwunderlich, immerhin sind es abgesehen von dem pointierten Drehbuch die beiden Schauspielerinnen, die dem Film Kraft verleihen. Mit Blicken und Gesten deuten die beiden Dinge an, darunter auch die Tatsache, dass zwischen den beiden Schulfreundinnen mal etwas mehr als nur Freundschaft gewesen sein könnte.

Seitenwechsel, Tessa Thompson, Ruth Negga

Netflix © 2021

Clare mit ihrem rassistischen Ehemann John (Alexander Skarsgård)

Vor allem Netflix dürfte sich viel von dem Film im Kampf um die Goldstatuen erwarten. Tessa Thompson kämpft in der Hauptdarstellerinnen-Kategorie mit großen Namen um einen Platz auf der Nominiertenliste: Lady Gaga („House of Gucci“), Kristen Stewart („Spencer“) oder Penélope Cruz (“Paralell Mothers”) gelten derzeit als aussichtsreiche Kandidatinnen. Ruth Negga wird von dem Streamingdienst in der Kategorie beste Nebendarstellerin eingereicht und darf sich Chancen ausrechnen.

Bowies Lieblingsbuch

„Seitenwechsel“ basiert auf dem gleichnamigen Roman der Autorin Nella Larsen. Die Autorin gilt als Teil der Harlem Renaissance, einer Bewegung Schwarzer Künstler*innen im New York der 20er und 30er Jahre. Ihr schriftstellerisches Schaffen gilt zwar mit den beiden Romanen „Quicksand“ und „Passing“ und einigen Kurzgeschichten als nicht sonderlich umfangreich, dafür aber als umso wirkungsvoller. Vor allem in jüngster Vergangenheit gewannen die Geschichten Larsens mehr Aufmerksamkeit, beschäftigte sie sich in ihren Büchern doch mit ethnischer Zugehörigkeit sowie der Frage nach sexueller Identität mit Themen unserer Zeit.

Für ihren ersten Spielfilm hat sich Rebecall Hall keinen leichten Stoff ausgewählt. Knapp fünfzehn Jahre sind vom ersten Gedanken bis zum fertigen Film vergangen. Das Ergebnis ist ein künstlerisch anspruchsvoller Film. Die Entscheidung, den Film komplett in Schwarz-Weiß zu drehen, ist genial. Das lässt auch für die Zuseher*innen die vermeintlichen Identitätsgrenzen verschwinden. Hall selbst hat ebenso wie die Autorin der Romanvorlage Larsen auch einen persönlichen Bezug zur Story. Sie ist die Tochter einer afroamerikanischen Opernsängerin, wurde als Schauspielerin aber überwiegend für Weiße Rollen gecastet. Der Film ist auch eine Aufarbeitung ihrer eigenen Familiengeschichte.

Seitenwechsel, Tessa Thompson, Ruth Negga

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Die beiden Schulfreundinnen Clare und Irene in „Seitenwechsel“

Dass der Film überhaupt entstanden ist, schreibt Hall auch dem mittlerweile verstorbenen Sänger David Bowie zu. Auf einem Event ist die Schauspielerin, die bisher etwa in „Tales from the Loop” oder „Iron Man 3“ zu sehen war, Bowie in die Arme gelaufen. Bowie hat „Passing“ zu Lebzeiten in seiner Liste der Top-100-Lieblingsbücher geführt. Auf der Veranstaltung hat Hall ihm von ihren Recherchen und dem ersten Drehbuchentwurf erzählt und tags darauf ein Paket von Bowie erhalten. Darin: Eine Biographie über Larsen mit der Ermutigung, den Film zu drehen.

„They always come back“

Popkino ist „Seitenwechsel“ nicht, manche Szenen kommen doch recht sperrig daher. Allerdings liefert Rebeca Hall hier mit fast jedem Dialog eine Anklage, mal leise, mal laut und definitiv Zeile für Zeile auf den Punkt. Sie schickt ihre Protagonist*innen auf Identitätssuche und erforscht, was passiert, wenn die eigenen Lügen über die konstruierte Realität ins Wanken kommen.

Seitenwechsel, Tessa Thompson, Ruth Negga

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Brian (André Holland) und Irene (Tessa Thompson)

„They always come back“ sagt Irenes Ehemann Brian an einer Stelle des Films als die beiden über den Seitenwechsel der ehemaligen Schulfreundin diskutieren. Und so kommt es schließlich auch, Clare verbringt immer mehr Zeit mit ihrer alten Schulfreundin, deren Ehemann und vor allem jener Gesellschaft, der sie Jahr zuvor noch den Rücken gekehrt hat. Die Sehnsucht nach der Black Culture ist für Irene irgendwann größer.

„Seitenwechsel“ geht über die herkömmlichen Rassismus-Dramen hinaus. Hall beweist eine eine präzise Beobachtungsgabe und macht aus dem Drama einen Film über Passing, Identität und das Aufeinanderprallen von innerer und äußerer Wahrnehmung. Im Zentrum die vielleicht größte Frage des menschlichen Daseins: „Wer bin ich?“

„Seitenwechsel“ ist auf Netflix zu sehen

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