FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Girl with a gun

Angel Haze

Best New Music

Angel Haze: Nach Wut und Schmerz kommt der Heilungsprozess

Knapp ein Jahrzehnt nach ihrem internationalen Durchbruch meldet sich Angel Haze mit einer neuen EP zurück. Ihre einstige Mischung aus Wut und Angst ist längst passé. Mit „Girl With The Gun“ wendet sich die Rapperin aus Detroit verspielteren und weicheren Sounds zu und zeigt: Die Arbeit an sich selbst ist lästig und hart, aber sie lohnt sich.

Von Melissa Erhardt

Wir schreiben das Jahr 2012, als die gerade einmal 20-jährige Angel Haze die internationale Rap-Welt im Sturm erobert. Mit ihrer unverhohlenen, schonungslosen Art spricht sie Dinge an, die sie in ihrem Innersten belasten: Depressionen, Angstzustände, Rassismus, Homophobie, aber vor allem ihre eigenen Vergewaltigungserfahrungen, die sie über Jahre hinweg in einer Art Sekte ertragen musste.

Mit Zeilen wie „Imagine being seven and seeing cum in your underwear / I know it’s nasty but sometimes I’d even bleed from my butt / Disgusting right? Now let that feeling ring through your guts“ donnert sie diesen Schmerz Zeile für Zeile mit so einer Eindeutigkeit und Rohheit heraus, als ob alles, was danach kommt, keine Rolle mehr spielen würde.

„Ich möchte, dass die Leute sich beim Hören des Songs angewidert fühlen. Ich möchte, dass du dir den Song anhörst und darüber nachdenkst, wie du dich fühlen würdest, wenn deine Tochter dir diese Dinge erzählen würde. Das möchte ich erreichen“, beschreibt sie ihren „Ansatz“ einmal in einem Interview. Und das nicht nur zu einer Zeit, wo dieser „In-Your-Face-Rap“ von Frauen eine extreme Rarität ist, sondern wo die Rap-Landschaft bis auf Nicki Minaj sowieso relativ, nun ja, männerlastig ist.

Wenn die Auszeit guttut

Nach ein paar Mixtapes und zwei Alben wird es ab 2015 relativ ruhig um die Rapperin aus Michigan. Die Zeit habe sie gebraucht, erzählt sie jetzt in einem Interview mit dem Paper Mag, um an sich selbst zu arbeiten und erwachsen zu werden, um den Mut aufzubringen, sich all den Dingen zu stellen, die sie im Laufe der Zeit aufgestaut hatte. Sie hat begonnen, sich für handwerkliche Arbeit und Kunst zu interessieren, sich mit ihrer Mutter versöhnt und einen neuen und wohl gesünderen Weg zu Gott gefunden – weit weg von der Pfingstgemeinschaft Greater Apostolic Faith in Virginia, in der sie groß geworden ist und die sie jahrelang von Musik, Freund*innen und einem „normalen“ Leben ferngehalten hatte.

Was diese Selbstfindung und vor allem diese Selbstheilung für die heute 30-Jährige gebracht hat, können wir auf ihrer neuen EP „Girl With The Gun“ hören. Den Charakter hat sie erschaffen, um schwierige Phasen in ihrem Leben besser verkraften zu können: Das Mädchen hat die Macht, alles niederzureißen, was ihren Träumen im Weg steht.

Wir bekommen eine experimentierfreudige und viel facettenreichere Angel Haze zu hören. Eine, die vielleicht sanfter in ihrem Ton geworden ist, aber nicht weniger intensiv in ihrer Message. Es geht um den Glauben und den aufkommenden Zweifel, um die Liebe in ihrer erfüllenden und intensivsten Form, um Identität und das Kämpfen um sich selbst.

Auf den insgesamt sechs Songs zeigt sich Haze kreativ, sie spielt mit ihrer Stimmfarbe und Geschwindigkeit. Der Wechsel zwischen den typischen, ego-geleiteten Punchlines („Fly Trap“) und dem verträumten Gesang („The Altar“) gleicht dabei den zwei überspitzten Geschlechterpolen, die Angel Haze in ihrer Identität verbindet: Butch und Femme existieren hier nebeneinander, die Grenzen verschwimmen und, was übrig bleibt, ist eine androgyne Vielschichtigkeit, die auch musikalisch erstaunt. Das ist zwar nichts Neues bei der Künstlerin, aber zum ersten Mal scheint sie ihrer „weiblicheren“ Seite tatsächlich auch genug Raum für Entfaltung zu geben. Dass das mit der heute gelebten Diversität im Rap zusammenhängt, erzählt sie dem Paper Mag: „I think it’s amazing that there are so many people trying so many new things, and part of that gave me the courage to go back to the Angel that wanted to experiment and be playful with music, rather than so serious.“

Unterstützt wird diese Entwicklung vom Künstler und Produzenten WaveIQ, der zuletzt auch mit GoldLink oder Jaden zusammengearbeitet hat. Mit seinen Produktionen orientiert er sich am aktuellen Zeitgeist, irgendwo zwischen Neo-Soul und alternativem Hip Hop und sorgt für smoothe Sounds, die fast schon therapeutisch wirken. Dabei werden Ausflüge in eine Flamenco-Latin-Richtung („Ministry“) als auch in poppigere Richtungen („Girl With The Gun“) gemacht.

Befreiung statt Flucht

Fans der ersten Stunde vermissen auf dem neuen Tape vielleicht die wuchtigen Zeilen von früher, prall gefüllt mit Gesellschafts- und Selbstkritik. Zumindest „Fly Trap“ schafft hier aber Abhilfe: Der Song eröffnet mit einem gewaltigen „I don’t need love b*tch / don’t distract me“.

Haze mischt hier Selbstbejahung mit arroganter Ellbogenkultur: „I don’t need friends and I don’t need limits / I just be building, counting these digits“, rappt sie in dem für sie so typischen schnellen Tempo, bevor sie gleich alles wieder hinterfragt und hinter die selbstbewusste Fassade blicken lässt: „Who would you be if nobody was watching? (…) I need some devotion, I can’t be no option“. Der eigene Verstand als Fliegenfalle, die Angst vor dem Versagen, all das kommt hier zum Ausdruck.

Mit der Wut, die sie überhaupt erst zum Rappen angetrieben hat, hat sie großteils aber abgeschlossen. Musik bedeutet für Angel Haze eben nicht mehr nur Flucht, sondern auch Befreiung.

Aktuell: