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Wie Harvey Weinstein zu Fall kam

„She Said“ erzählt die Entstehungsgeschichte des Artikels, der Harvey Weinstein zu Fall und #metoo ins Rollen brachte. Maria Schrader erzählt unaufgeregt und sachlich ein Journalismusdrama.

Von Pia Reiser

Klassisch nüchtern ist der Titel eines Artikels der New York Times, der am 5. Oktober 2017 erscheint: „Harvey Weinstein Paid Off Sexual Harassment Accusers for Decades“. Der Artikel der Investigativjournalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey bringt den ehemals einfluss- und erfolgreichen Filmproduzenten Harvey Weinstein zu Fall. Immer mehr Frauen melden sich und erzählen von Weinsteins sexuellen Übergriffen. Das offizielle Hollywood distanziert sich vom einstigen Mogul, die Polizei nimmt Ermittlungen auf und im Mai 2018 wird Weinstein verhaftet. Wikipedia listet aktuell 107 Frauen, die Weinstein sexuelle Übergriffe, und 20 Frauen, die ihm Vergewaltigung vorwerfen.

Unmittelbar nach dem Erscheinen des Artikels fordert Schauspielerin Alyssa Milano auf Twitter: „If you’ve been sexually harassed or assaulted write ‚me too‘ as a reply to this tweet.“ 200.000 Tweets folgen am ersten Tag, am Folgetag sind es eine halbe Million. Metoo wird zum Schlagwort einer neuen, hochemotionalen öffentlichen Bewusstwerdung.

Von den weitreichenden Folgen - in Hollywood spricht man gerne von einem seismic shift -, der post-weinstein eingesetzt hat, ahnen Jodi Kantor und Megan Twohey noch nichts, als sie beginnen, für ihren Artikel zu recherchieren. Dass die Entstehungsgeschichte des Artikels einmal verfilmt wird, vermutlich auch nicht.

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FM4 Film Podcast #156: „She said“ & „The Assistant“

Ein Artikel in der New York Times bringt im Oktober 2017 den früher gefeierten Hollywood Produzenten Harvey Weinstein zu Fall. Maria Schrader erzählt in „She Said“ die Entstehungsgeschichte dieses Artikels, nach dessen Erscheinen aus #metoo eine Bewegung wird. Christian Fuchs und Pia Reiser haben Filmwissenschaftlerin Bianca Jasmina Rauch (Ned Wuascht Podcast) eingeladen, um mit ihr über „She Said“ zu sprechen. Außerdem geht es um „The Assistant“, einen Film, der bereits 2019 beeindruckend und nüchtern auf die Leinwand gebracht hat, wie es überhaupt sein kann, dass Weinstein jahrzehntelang Frauen missbraucht, vergewaltigt und zum Schweigen gebracht hat. Ein Gespräch über #metoo im Film, Journalismusdramen und ob ein Film alles richtig machen und trotzdem ein bisschen dröge sein kann.

Keine sexuelle Gewalt zeigen

In „She Said“ werden Kantor und Twohey von Zoe Kazan und Carey Mulligan verkörpert und ähnlich nüchtern wie der Titel des Artikels über Weinstein ist auch der Film erzählt. Bloß zu Beginn zeigt uns Schrader - als pars pro toto - eine junge Frau, die Anfang der 1990er Jahre an einem Filmset arbeitet und die wir dann hektisch, weinend und außer sich eine Straße runterlaufen sehen. Untermalt vom Score von Nicolas Britell ist diese einfache Szene, die ohne Worte auskommt, eine der emotionalsten in „She Said“. (Die, die am längst nachhallt, ist eine, in der man nur verschiedene Hotelgänge sieht und eine von Model Ambra Battilana Gutierrez heimlich gemachte Aufnahme hört, wie Harvey Weinstein versucht, sie zu überreden, mit ihm aufs Hotelzimmer zu gehen.)

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„She Said“

Schrader braucht hier nicht bebildern, was passiert ist, damit wir es verstehen, und Schrader will vor allem die sexuellen Übergriffe nicht bebildern. „We don’t need another rape scene“, so Schrader im Interview. Keine Nacktheit, keine gezeigte sexuelle Gewalt - und bis fast ganz zum Schluss kein sichtbarer Harvey Weinstein. Dem Täter wird so wenig Platz wie nur möglich eingeräumt, überhaupt interessiert sich „She Said“ weniger für den Hollywood-Aspekt an diesem Fall als für ein System (das es auch in jeder anderen Branche geben kann und gibt) aus Mitwissern, Wegschauern und Tolerierern.

Ein offenes Geheimnis

Erst kürzlich hat Quentin Tarantino, für den Weinstein ein Förderer und Geldgeber war, eingeräumt, gewisse Dinge gewusst zu haben: „To tell you the truth, I chalked it up to a ‚Mad Men‘-era version of the boss chasing the secretary around the desk. I’m not saying that’s OK. That’s how I heard it… in that category. There was never any talk of rape or anything like that.“

Weinsteins übergriffiges Verhalten ist so etwas wie ein offenes Geheimnis. Als Seth MacFarlane 2013 die Nominierungen in der Kategorie „Best Actress in a supporting role“ verkündet, fügt er hinzu „Congratulations, you five ladies no longer have to pretend to be attracted to Harvey Weinstein.“ In Serien wie „30 Rock“ werden Witze über ihn und sein Verhalten gemacht. „She Said“ geht davon aus, dass man den Namen Harvey Weinstein einordnen kann. Einer jüngere Generation, die mit Weinstein vielleicht nur den Mann mit Rollator verbindet, der vor Gericht steht, fehlt ein essentielles Puzzleteil für „She Said“, eine Einordnung vom unglaublichen Erfolg von Weinstein, der eine Gallionsfigur des Indie-Kinos der 1980er und 1990er Jahre war.

Weinstein finanzierte Steven Soderberghs „Sex, Lügen und Video“, Weinsteins Firma „Miramax“ brachte Pedro Almodovars „Fessle mich“ in den USA in die Kinos. Als Miramax eine Tochterfirma von Disney wurde und es Schwierigkeiten gab, „Fahrenheiten 9/11“ in die Kinos zu bringen, weil Disney-Chef Eisner den Vertrieb untersagte, kauften Harvey und sein Bruder Bob die Filmrechte zurück und brachten ihn in die Kinos. Das alles nur, um ganz kurz zu illustrieren: Rein filmmäßig war Harvey Weinstein auf der richtigen Seite. Natürlich wollten alle mit ihm zusammenarbeiten. Er unterstützte Hilary Clinton, Malia Obama machte ein Praktikum bei der „Weinstein Company“ und im Jänner 2017 nahm er am Women’s March in Utah teil. Das Foto vom Women’s March tweetete Jodi Kantor am Tag, nachdem der Artikel erschienen war.

Schon 2005 sagte Courtney Love in einem Interview: „If Harvey Weinstein invites you to a private party at the Four Seasons - don’t go“. Die Warnung kam zu spät für Ashley Judd, sie wurde 1997 von Weinstein in einem Hotelzimmer bedrängt und wies ihn zurück. Daraufhin setzte er sich dafür ein, dass sie manche Rollen nicht bekam. Ashley Judd spielte sich in „She Said“ selbst, was einerseits ganz gut als Erinnerung daran funktioniert, dass dies eine wahre Geschichte ist, anderseits ist natürlich das Konzept des Sich-selbst-Spielens immer auch eine Irritation, vor allem in einem Film, der sich in seiner unaufgeregten Erzählweise sehr darum bemüht, bloß nicht zu irritieren.

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Zoe Kazan als Jodi Kantor

Judd ist eine der ersten, die mit den Journalistinnen spricht und auch bereit ist, on the record zu gehen. Denn das ist die große Hürde, auf die Kantor und Twohey stoßen: Die Abfindungen und Geheimhaltungserklärungen, die den Weg von Harvey Weinstein pflastern. Die Frauen wurden nicht nur sexuell belästigt, bedrängt oder vergewaltigt, sondern auch eingeschüchtert und mundtot gemacht. „She Said“ aus der alten Redewendung „He said/she said“ - also Aussage gegen Aussage - wird hier mit ordentlich Macht, Mut und Verantwortung aufgeladen.

Verträge, Aussagen, Gespräche am Telefon, Polizeiberichte, eine Tonbandaufnahme und schließlich ein Artikel: Es ist eine Bedingung des Genres, dass in einem Journalismusdrama das gesprochene und das geschrieben Wort die eigentlichen Hauptrollen spielen. Und tippen, lesen und telefonieren sind bekanntlich keine Tätigkeiten, die sich wahnsinnig spannend inszenieren lassen. (Absurderweise: je moderner umso fader, also Personen, die fanatisch auf eine Schreibmaschine einklopfen, sind schonmal interessanter, als wenn das Ganze am Laptop geschrieben wird) und Handys sind sowieso das ödeste Requisit.

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„She Said“ nimmt sich Zeit, um von den peniblen Recherchen, dem lückenlosen Faktencheck, dem Suchen von Dokumenten zu erzählen. Vom Suspense eines Vorzeige-Journalismusthrillers wie „All The President’s Men“ ist das weit entfernt. Kann man jetzt aber auch niemandem vorwerfen, dass Kantor und Twohey keinen mysteriösen Informanten in der Tiefgarage hatten. Was Kantor und Twohey haben, was Woodward und Bernstein in „All The President’s Men“ nicht haben, ist ein Privatleben. Der größte Unterschied zwischen dem Buch „She Said“ und der Verfilmung ist, dass wir die beiden Journalistinnen auch in ihrem Familienleben kennenlernen. Mit den Ehemännern als unterstützende Randfiguren, wie es zuvor dekadenlang die Frauen in Filmen waren.

„She said“ ist derzeit in den österreichischen Kinos zu sehen.

Man ist fast überrascht, dass einen „She Said“ niemals überrumpeln oder manipulieren will. Der Film ist tatsächlich eine Nacherzählung, deren größter Coup es ist, aus der Geschichte über sexuelle Übergriffe, Vergewaltigungen und Trauma keine Geschichte zu machen, die die Frauen als Opfer stigmatisiert. „She Said“ konzentriert sich auf den Mut der Frauen, die als erste bereit waren, mit den Journalistinnen zu sprechen. Der Film ist eine Ode an den Journalismus als vierte Macht und eine Ode an das Kollektiv. Wenn im Abspann knapp zu lesen ist, was nach der Veröffentlichung des Artikels passiert ist, fragt man sich nur, ob ein derart einschneidender Moment nicht auch einen Film gebraucht hätte, der einen mehr durchbeutelt.

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