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Wie man Google Docs als Dating-App verwendet

Eine kleine Gruppe von Menschen im Internet versucht, mit selbstgeschriebenen Kontaktanzeigen Partner:innen zu finden. Von Date-Me-Docs versprechen sich Singles bessere Matches und entschleunigte Rendezvous.

Von Benjamin Stolz

Julia wünscht sich, dass ihr nächster Partner Verantwortung für seine Umwelt trägt, dass er seine Gefühle kommuniziert, Berührungen mag, aktiv und fit ist und seinen eigenen Weg zum Glück geht. Julia hat einen starken Gerechtigkeitssinn, liebt ihre Freunde, Abenteuer in Patagonien, Roadtrips nach Montana und Dinnerpartys bei ihr zu Hause in Oakland, Kalifornien. Das alles und noch etwas mehr steht in einem öffentlich zugänglichen Google Doc, das Julia ins Internet hochgeladen hat. Sie ist eine von mehreren hundert Leuten – oft gebildeten Millennials in und im Umkreis von großen US-amerikanischen Städten in Küstennähe – die eine Mischung aus Kontaktanzeige und High-End-Liebeslebenslauf ins Netz stellen, um Dates zu finden.

„Ich hoffe auf ein geringeres Volumen und mehr Qualität."

Das Prinzip funktioniert so: Interessierte bekommen ein Date-Me Doc in die Hände, lesen es und kontaktieren die Urheberin des Dokuments ohne direkte Umschweife via E-Mail. Früher hat Julia ihre Partner meist auf klassischen Dating-Apps gesucht. „Für mich ist das ein guter Weg, neue Leute zu finden. Allerdings musste ich auf viele Treffen gehen“, sagt sie. Hundert erste Dates zählte Julia in den letzten fünf Jahren. Daraus entstanden allerdings nur zwei ernsthaftere Beziehungen. Das Problem: „Online kann man einfach nicht herausfinden, ob die Chemie stimmt“. Mit ihrem Date-Me Doc hofft Julia, dass sie ihre Werte und ihren Lifestyle genauer rüberbringen und sich damit ein paar Kandidaten sparen kann. „Ich hoffe auf ein geringeres Volumen und mehr Qualität. Die meisten Leute, die ich kennen, mögen den Online-Teil des Datings nicht.“

Keine Alternativen

Mit ihrer Frustration gegenüber der digitalen Partner:innensuche sind Julia und ihre Freund:innen nicht alleine. Sozialpsychologin Johanna Degen von der Europa-Universität Flensburg beschäftigt sich in ihrer Forschung unter anderem mit Dating-Apps und deren Auswirkungen auf ihre Nutzer:innen. Für sie sind viele Singles gestresst, erschöpft und „tindermüde“. „Wir haben eine Art von Intimität und Sexualität, die uns wenig Spaß macht, weil wir unser Liebesleben sehr quantitativ angehen“, sagt Degen. In den USA hat das Wachstum von Dating-App-Nutzer:innen vor kurzem stagniert. Laut einer Studie des Pew Research Centers waren Nutzer:innen im Jahr 2019 noch zufriedener als im letzten Jahr. Von einem Einbruch der Apps zu sprechen wäre allerdings falsch. Laut Degen kommen mehr als die Hälfte der Beziehungen heute durch eine Online-Begegnung zustande. Für Menschen auf der Suche nach Partner:innen ist der Weg ins Internet beinahe Pflicht. „In der Forschung sehen wir, dass die Menschen die Situation als alternativlos erleben. Es scheint unmöglich, im öffentlichen Raum jemanden kennenzulernen.“

„In der Forschung sehen wir, dass die Menschen die Situation als alternativlos erleben."

„Ich finde, diese Dating-Apps sind wie Ticketmaster. Sie sind furchtbar, aber es gibt keine Alternative“, sagt Colleen, die vor kurzem auch ein Dating-Doc erstellt hat. Es beginnt mit einer Abwandlung eines Bonmots. „Was ist die Definition von Verrücktheit? Dasselbe immer und immer wieder machen“, erklärt Colleen. Die 59-Jährige hat von den romantischen Docs in der New York Times gelesen und wollte es selbst ausprobieren. „Ich habe viel Zeit, Geld und Energie für Bumble und andere Apps verschwendet und ich bin immer noch single. Jetzt suche ich eine etwas bedachtere, organische Herangehensweise“. Zwei E-Mails hat Colleen bereits erhalten: Von einem Arzt in Michigan, der leider verheiratet ist, und von einem anonymen Mann, der ihr zu ihrem sympathischen Dokument gratulierte.

Mühsame Entschleunigung

Wer mit Date-Me Docs erfolg haben will, muss Geduld und Zeit haben. Nicht nur das Erstellen eines Docs dauert, es gibt auch wenige Orte, an denen man die Dokumente gesammelt findet. Eine Tabelle in der Notizen-App Notion vereint ein paar hundert, auf Twitter und einzelnen Blogs findet man sporadische Steckbriefe. Wie in der Welt der dafür wirklich konzipierten Dating-Apps scheint ein großer Teil der Date-Me Docs von Männern zu stammen. Und geografisch konzentrieren sich die Verfasser:innen der Dokumente auf große Städte in den USA.

"Date-me Docs stellen sich gegen die Logik der Beschleunigung.“

Gerade in diesem noch eingeschränkten Angebot sieht Tinder-Expertin Johanna Degen aber auch eine Stärke für die Suche nach Wegbegleiter:innen. „Man muss rumwühlen und es ist nicht leicht zugänglich. Dadurch wird es wieder spannend. Date-me Docs stellen sich gegen diese Logik der Beschleunigung.“

Colleen und Julia hat das Experiment mit Date-Me-Docs noch kein Rendezvous eingebracht. Eine Freundin von Julia hat ihren aktuellen Partner allerdings so kennengelernt. Trotz des mäßigen Erfolgs bisher bereuen Colleen und Julia nicht, sich für ihr Dokument Mühe gegeben zu haben. „Das ist ja gerade das schöne daran“, sagt Colleen, „dein Date-Me Doc ist so einzigartig, wie du selber bist. Du kannst deine eigene Persönlichkeit darin entfalten.“ Julia will ihr Dokument bald an rund 60 Freunde und Bekannte schicken. Sie will ihre Partnersuche wie die Suche nach einem Job angehen: „Leute finden eher Jobs über Leute, die sie nicht so gut kennen. Und ich glaube, beim Dating ist es genauso.“

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