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CC0 Unsplash / Foto von Chris Boland

Von Jukebox-Slots zu Streamingzahlen: so entstehen kommerzielle Musikcharts

Streamst du schon oder besitzt du noch? Wer heutzutage Songs kauft und herunterlädt, gehört zu einer aussterbenden Art. Während Streamingservices unseren Musikkonsum reformieren und TikTok den Musikmarkt auf den Kopf stellt, scheinen kommerzielle Musikcharts nicht an Bedeutung zu verlieren.

Von René Froschmayer

Aufmacherbild von Chris Boland

Die US-amerikanischen Billboard-Charts sind wohl die wichtigsten kommerziellen Musikcharts. Seit über 100 Jahren veröffentlicht das Medium wöchentlich ein kommerzielles Songranking. Die Musikindustrie befindet sich seit jeher in einem stetigen Wandel. Streams lösen (teilweise) physische Verkäufe ab.

Andy Zahradnik und Christoph Gruber zu Gast bei FM4

René Foschmayer | FM4

Christoph Gruber (li.) & Andy Zahradnik (re.) waren für eine Spezialstunde über kommerzielle Musikcharts zu Gast.

Zusätzlich befeuert die Plattform TikTok Musiktrends. Diesen Dynamiken spiegeln kommerzielle Musikcharts wieder: Erst kürzlich präsentierte Billboard eine neue Rankingkategorie, die mit der Zeit gehen soll. Die TikTok Billboard Top 50 bilden ab, welche Songs auf TikTok trenden.

Spätestens seit Fleetwood Mac mit ihrem Hit „Dreams“ erneut in die Billboard Hot 100 einstiegen, ist klar: TikTok-Sounds, die viral gehen, finden ihren Weg in die Musikcharts. Selbst wenn diese Songs über 50 Jahre alt sind, wie wir am Beispiel von „Dreams“ 2020 beobachten konnten.

Den Umstand bestätigen auch Andy Zahradnik und Christoph Gruber im FM4-Interview. Die beiden sind für das österreichische Pendant der US-amerikanischen Billboard-Charts zuständig: die Ö3 Austria Top 40. Seit 25 Jahren führen Zahradnik und sein Team Verkaufs- und Streamingzahlen zusammen und werten die wöchentlichen Chartsplatzierungen aus. Mit dem Jahreswechsel gibt er das Zepter an Christoph Gruber ab. Zahradnik gilt als „Charts-Experte“ - seit mehr als 50 Jahren ist er in der Musikbranche tätig. Der perfekte Gesprächspartner, um die Anfänge von Musik-Charts zu beleuchten. Also, wie hat das damals alles begonnen?

Von heißbegehrten Jukebox-Slots, der Briefkartenwertung und der Krux mit den Streamingzahlen

Die Ö3 Austria Top 40 Singles-Charts listen wöchentlich die kommerziell erfolgreichsten Singles auf. Wieso aber 40 und nicht gleich 50 oder 100 Titel? Die Erklärung liegt im Münzfach einer Jukebox, denn dort nimmt die Geschichte der kommerziellen Musikcharts ihren Anfang.

„Die alten Tubes hatten nur eine begrenzte Anzahl an Songslots, nämlich 40. Die Geräte waren mit einem Zählwerk ausgestattet. Wenn viele Menschen den Track mit der Bezeichnung F7 hören wollten und für den Song eine Münze eingeworfen haben, dann wurde der Song höher bewertet. Daran konnte man die Beliebtheit eines Songs und/oder Künstler:in ablesen“, erklärt Andy Zahradnik. Für die Musiker:innen war es enorm wichtig, in den Musikmaschinen vertreten zu sein.

Schon zu Johann Strauß‘ Zeiten wurden Verkaufscharts von Notenblättern ermittelt.

In Österreich nahmen kommerzielle Musikcharts in den 1960er Jahren an Fahrt auf. Mit dem Rundfunkmonopol (bis 1993) hatte der ORF auch die Hitparade fest in der Hand. Ab 1967 wurde sie im neu gegründeten Radiosender Ö3 abgebildet. „Die haben damals eine Postkartenwertung hergezogen, da haben sich alle die Finger wund geschrieben“, schmunzelt Zahradnik. Die Chartswertung wurde durch Einsendungen in Form von Postkarten aufgestellt – egal, ob diese von treuen Fans, der Plattenfirma oder Promotern verschickt wurden.

Später wurde mit dem System „Hit will mit“ versucht, eine präzisere Erfassung der Popularität eines Songs mithilfe von Verkaufszahlen zu ermitteln. Plattenfirmen und Händler:innen meldeten, wie viele Platten über die Budel gingen. „Parallel dazu gab es auch die Anrufwertung, da konnten die Leute nach wie vor für ihre Lieblingssongs abstimmen“, so der Experte. Ab den 1990ern hat auch Österreich das internationale Cash-Desk-System übernommen. Hörer:innenwünsche waren damit wegrationalisiert. Wer den Lieblingssong die Chartswertung hochklettern sehen wollte, musste von nun an das Lied erwerben.

Musikcharts in der Streaming-Ära

Der Musikkonsum im Jahr 2023 ist von Personalisierung geprägt. Streamingplattformen kuratieren uns maßgeschneiderte Playlists und stellen eigene Chartsrankings auf. Relevanz haben kommerzielle Musikcharts dennoch, so Zahradnik und Gruber. „Unsere Charts, die Ö3 Austrian Top 40, sind die Auswertung von Daten. Man kann sie als die Charts der Charts sehen“, erklärt Gruber. Dass kommerzielle Musikcharts heute keine Relevanz mehr hätten, dem widerspricht Andy Zahradnik vehement. „Das kommt immer schon von jenen, die nicht in den Charts vertreten sind“, fügt er an. „Man kann es drehen und wenden, die Menschen interessieren sich für Charts. Das tun sie seit vielen Jahrzehnten."

Bei den FM4 Charts handelt es sich um Redaktionscharts. Sie werden von der FM4 Musikredaktion jede Woche kuratiert. Verkaufszahlen spielen bei der Erstellung keine Rolle. Wie hoch die FM4 Neuvorstellungen ins Rennen gehen, hängt von den Hörer:innen ab!

Das Interesse bleibt, die Konsumweise hat sich jedoch stark gewandelt. Downloads und physische Verkäufe bekamen Gesellschaft von Streams. Die werden seit einigen Jahren auch in kommerziellen Charts, wie den Ö3 Austria Top 40, berücksichtigt. Seit etwas mehr als einem Jahr werden im österreichischen Chartsranking auch YouTube-Streams mit einbezogen. Plays von unterschiedlichen Plattformen werden jedoch unterschiedlich betrachtet. Außerdem wird zwischen Premium (ein Stream, der von einem Konto mit Abonnement getätigt wird) und werbefinanzierten Streams (kostenlos, mit Werbeinhalten) unterschieden. Der Grund dafür liegt in der Wertschöpfung, so Zahradnik. Die Wertungsschlüssel werden international abgestimmt regelmäßig adaptiert.

Im Musikstreaming sieht Zahradnik eine direkte Parallele zur Stunde Null der kommerziellen Musikcharts. Damals wie heute wird nämlich nicht der Besitz, sondern der Konsum von Musik erhoben. Wie oft eine Platte, CD oder ein Audiofile abgespielt werden, kann nicht erhoben werden.

Was außer ein Verkaufsindikator sind also kommerzielle Musikcharts?

„Ein Spiegel des internationalen oder nationalen Musikkonsums“, meint Zahradnik. „Für den Song auf Platz 1 haben die Menschen diese Woche am meisten Geld ausgegeben. Und es ist völlig unabhängig, um welches Genre oder um welche Art von Musik es sich handelt. Nach manchen Dingen kannst du dir die Uhr stellen. Bald kommt Weihnachten und dann haben wir Songs aus den 50ern und 60ern in den Singlescharts. Das ist doch ein super Indikator dafür, wie Menschen Musik emotional behandeln."

Christoph Gruber fügt hinzu: „Die Ö3 Austria Top 40 sind ein Rückblick. Wir sehen, was die Menschen bewegt. Denn Musik bewegt - und das bilden Charts ab.“

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