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Screenshot von TikTok Videos zu Osama bin Laden

TikTok

Warum Osama bin Laden auf TikTok trendet

Der Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 ist wieder da – als TikTok Trend. Warum das mehr ist als eine reine Provokation.

Von Ali Cem Deniz

Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis die Plattform, die Leute wie Andrew Tate hervorgebracht hat, Osama Bin Laden zum viralen Trend macht. Begonnen hat alles mit einem kurzen Clip von Influencerin Lynette Adkins. Darin ruft sie ihre über 75.000 Follower dazu auf „A Letter To America“ von Osama bin Laden zu lesen. Osama bin Laden war Anführer der Terrorgruppe Al-Qaida und gilt als Drahtzieher der Anschläge des 11. September 2001, bei dem Terroristen entführte Flugzeuge in die Türme des World Trade Center in New York flogen. Dabei wurden fast 3000 Menschen getötet.

Lynette Adkins erzählt, sie selbst habe das Manifest von Osama bin Laden gelesen und habe jetzt eine „existential crisis“. „Go read it and let me know what you think“, sagt Adkins. Ihre Videos zu Osama bin Laden gehen viral. Das erste Video hat knapp eine Million Likes. Das zweite, in dem sie im Fitness-Studio über Osama Bin Laden nachdenkt, hat sogar über 1,5 Millionen Likes.

Fashion, Fitness, Fundamentalismus

In ihren Videos beschäftigt sich Lynette Adkins mit dem eskalierten Nahostkonflikt. Davor hat sie hauptsächlich Fashion, Fitness und Make-Up Videos gepostet. Noch am 8. Oktober, einen Tag nach dem Hamas-Angriff auf Israel, kritisiert sie den zu hohen Zuckergehalt von Matcha Tees. Seither kritisiert sie die Unterstützung der USA für Israel.

Influencerin Lynette Adkins auf TikTok

TikTok

Lynette Adkins denkt im Fitness-Studio über Osama Bin Laden nach. Inzwischen wurde die Influencerin auf TikTok gesperrt.

„A Letter To America“ ist ein Text von Osama bin Laden aus dem Jahr 2002, in dem er seine Motivation für den Krieg, den er gegen den Westen führt, darstellt. Es ist ein radikaler Text, der anti-semitische Verschwörungstheorien mit anti-kolonialen Ideen vermischt. Er argumentiert auch warum Anschläge gegen Zivilist:innen gerechtfertigt seien.

Darin geht es auch immer wieder um Palästina. Das dürfte auch einer der Gründe sein, wieso der lange vergessene Text derzeit auf so viel Interesse stößt. Wie Lynette Adkins darauf gestoßen ist, wissen wir nicht. Aber wir wissen, wo sie den Text gefunden hat.

Nicht im Darknet und nicht in einem islamistischen Forum. Der Text wurde 2002 von der britischen Tageszeitung The Guardian veröffentlicht und war über 20 Jahre, bis zum viralen Trend auf TikTok, auf der Internetseite von The Guardian abrufbar. Als Reaktion auf den Trend hat The Guardian den Text offline genommen, was erst recht zur Viralität beigetragen hat.

Dass The Guardian, ein Jahr nach dem 11. September 2001, diesen Brief veröffentlicht hat, zeigt auch, wie sehr sich der gesellschaftliche Umgang mit heiklen Texten verändert hat. In der Prä-Social Media Welt war es offenbar, selbst in der Post-9/11 Atmosphäre, möglich, das Manifest als ein Zeitdokument zu veröffentlichen, ohne, dass es all zu große Empörungswellen und Shitstorms gab.

Hashtags, Likes, Terrorpropaganda

TikTok, und inzwischen auch Instagram, haben den Begriff „Osama Bin Laden“ blockiert, doch User:innen können das umgehen, in dem sie etwa nach „OBL“ suchen.

Beim Anschauen der unzähligen Video fällt schnell auf: Viele User:innen reden kaum über den Inhalt. Es sind kurze Clips, in denen sie, so wie Lynette Adkins in ihren ersten Videos, darüber reden, dass sie den Text gelesen haben und jetzt alles anders sehen. Gut möglich, dass einige unter ihnen einfach versuchen, auf den viralen Trend aufzuspringen, um mehr Views und Likes zu bekommen.

Es sind aber auch viele darunter, die es ernst meinen. Ein TikToker betont, dass er nicht die Aktionen von Osama bin Laden gut heißen will, aber der Text würde die „Doppelmoral“ des „kolonialistischen Westens“ erklären. Kritik am Text oder an dem Trend ist kaum zu finden.

Islamisten und Salafisten gibt es auf TikTok lange, aber die User:innen, die jetzt dazu aufrufen, Osama bin Laden zu lesen, sind keine Salafisten. Sie haben Tattoos, Piercings und schauen aus wie man sich die stereotype Gen Z vorstellt. Sie interessieren sich auch nicht für die theologischen Aspekte von Osama bin Ladens Ideologie, sondern für seine Kritik am Westen.

Osama bin Laden ist außerdem nicht der erste Terrorist, der auf Social Media eine neue Rezeption genießt. Schon seit einigen Jahren wird das technologiefeindliche Manifest „Industrial Society and Its Future“ des als „Unabomber“ bekannt gewordenen Ted Kaczynski auf Plattformen wie 4chan, TikTok und X regelmäßig geteilt und diskutiert.

Der lange Schatten des 9/11

Der eskalierte Nahost-Konflikt, aber auch die „edginess“ von Osama bin Laden, der in der amerikanischen Öffentlichkeit als ultimativer Bösewicht bekannt ist, machen sicherlich den Reiz aus. Dass The Guardian umgehend den Artikel entfernt hat, der über 20 Jahre online war, zeigt, wie gut diese Provokation aufgeht.

Mehr als zwanzig Jahre nach den Anschlägen des 11. September ist der Schrecken über Al-Qaida und Osama bin Laden verblasst. In den letzten Jahren ist 9/11, das die USA und die Welt fundamental geprägt hat, immer mehr zum Meme geworden. Für die Gen Z ist 9/11 nicht dieses überdimensionale, einzigartige Event, sondern ein historisches Ereignis unter vielen.

Bush Meme auf Twitter

Twitter/X

Zoomer Bush ist eines der vielen 9/11 Memes, die zeigen, dass der Umgang mit dem 11. September 2001 sich deutlich verändert hat.

Gleichzeitig zeigen die Videos, dass eine neue Generation herangewachsen ist, die versucht 9/11 und die Folgen zu verstehen. „What are some of the reasonsings you can remember our government told us, why 9/11 happened“, fragt eine Userin.

Nach dem 11. September hatte der damalige US-Präsident George W. Bush den „war on terror“ erklärt und sprach von der „Achse des Bösen“, die es zu bezwingen galt. In der us-amerikanischen Kriegspropaganda waren die Kriege gegen Afghanistan und Irak ein Krieg zwischen „Gut“ und „Böse“.

Eine kollektive Aufarbeitung dieser Zeit hat nicht stattgefunden, obwohl die Folgen bis heute spürbar sind: Der abrupte Abzug aus Afghanistan, die Machtübernahme der Taliban, die mittlerweile täglichen Angriffe auf US-Basen im Irak. Sie alle zeigen, dass 9/11 bis heute wirkt. Dass jetzt die Gen Z auf TikTok ausgerechnet Osama bin Laden liest, ist ein Symptom dieser fehlenden Aufarbeitung.

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