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Vanessa Kirby und Joaquin Phoenix in "Napoleon"

Sony/Apple

FILM

„Napoleon“: Ein eigentümliches Antiheldenportrait

Braucht die Welt gerade jetzt ein fast dreistündiges Historienepos rund um den französischen General, Diktator und Kaiser? Ja, durchaus. Zehn Gründe, sich Ridley Scotts neuen Film anzusehen.

Von Christian Fuchs

Zugegeben, „Napoleon“ hört sich nicht gerade nach dem hippsten Filmprojekt dieses Planeten an. Ein mittlerweile 85-jähriger Regisseur, ein verstaubter Historienstoff, ein blutiger Kriegsfilm, während gerade Teile der Welt brennen, muss das sein?

Aber da kommt gleich einmal der Hauptdarsteller ins Spiel. Unter den Hollywood-Stars der Gegenwart gibt es wenige, die sich dem Thema brüchige Männlichkeit so radikal nähern wie Joaquin Phoenix. Ich sag nur „The Master“, „Joker“ oder zuletzt „Beau is Afraid“, lauter neurotische Filmcharaktere für die Ewigkeit. Und jetzt hat Phoenix seiner Galerie der Antihelden einen General, Kaiser und Diktator hinzugefügt.

Napoleon Bonaparte (1769-1821) fasziniert seit jeher Historiker:innen und Geschichtslehrer:innen, die bürgerliche Weltliteratur stilisierte ihn ebenso zum militärischen Genie, wie ihn Adolf Hitler verehrte. Gleichzeitig geistern schon immer private, oft hämische Anekdoten um den Heerführer herum, der hunderttausende Soldaten strategischen Zielen opferte.

Wie eigentümlich Joaquin Phoenix diesen von Stereotypen umwucherten Napoleon anlegt, oft schläfrig wirkend und besessen zugleich, muss man gesehen haben. Hier sind neun weitere Gründe, sich „Napoleon“ anzusehen.

Joaquin Phoenix in "Napoleon", er sitzt auf einem Pferd, es schneit

Sony/Apple

Essenzielles Geschichtswissen ambitioniert verpackt

„Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen“, lautet ein vielzitierter Spruch. Leider gibt die Gegenwart, bevölkert von Autokrat:innen, Demokratiefeind:innen und potenziellen Umstürzler:innen, dem spanischen Philosophen George Santayana in diesem Fall recht. „Napoleon“ bietet essenzielles Geschichtswissen ambitioniert verpackt, die politischen Bezüge zur Gegenwart kann man nach dem Kinobesuch dann ausgiebig besprechen.

Der Look ist toll

Kein späterer Film von Ridley Scott kommt ohne fragwürdige CGI-Momente aus, in denen die digitale Illusion allzu deutlich sichtbar wird. Solche Szenen muss man auch in „Napoleon“ verschmerzen. Darüber hinaus gelingt Scott, zusammen mit seinem Stammkameramann Dariusz Wolski, ein glaubwürdiges Bild der historischen Ära. Der abgedunkelte Look dürfte Menschen mit Goth-Neigung besonders gefallen.

Die Trivialpsychologie üblicher Biopics fehlt

Nein, es gibt keine Rückblenden in „Napoleons“ Kindheit, die Aufschluss über seine Person bieten. Der Film und seine Titelfigur bleiben rätselhaft bis zum Ende. Ridley Scott, zeitlebens ein abgeklärter, zum Sarkasmus neigender Regisseur, verzichtet auf die oftmals peinlichen psychologischen Schlüsselmomente üblicher Biopics.

Sigmund Freud würde „Napoleon“ trotzdem lieben

Wenn es um mächtige Männer geht, sind sich viele Kabarettist:innen einig: Die ganze Geschichte der Zivilisation beruht auf sexueller Kompensation. Vereinfacht gesagt: Die Beziehungslage von Napoleon wirkte sich auf dem Schlachtfeld auf hunderttausende Soldaten aus. Ebenso wie das Hämorrhoidenleiden des Generals, von dem Ridley Scott gerne in Interviews erzählt.

Joaquin Phoenix in "Napoleon" mit einem Fernrohr auf einem Schlachtfeld, hinter ihm Soldaten

Sony/Apple

Der Film ist kitschfrei

Die romantische Liebe im Hollywood-Sinn wird in „Napoleon“ ausgespart. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gab es nur monetäre und strategische Gründe zu heiraten, macht der Film klar. Daneben zählten Sex und Loyalität.

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In der heutigen Episode des FM4 Filmpodcast sprechen Christian Fuchs und Pia Reiser über Ridley Scotts „Napoleon“ und Bradley Coopers „Maestro“. Mitternachts auf FM4.

Es geht um moderne Beziehungsfragen

Apropos: Wenn der Film dann doch Leidenschaften portraitiert, zeigt er uns ein Band zwischen zwei Personen, das kaum zerreißbar scheint. Napoleon Bonaparte und seine Gattin, die kurzzeitige Kaiserin Joséphine de Beauharnais, überstehen sexuelle Affairen und polyamore Eskapaden, sogar die brutale Trennung aus staatspolitischen Gründen. Eine gegenseitige emotionale Loyalität verbindet. Okay, wir wollen nicht zu sentimental werden, es geht um ein diktatorisches Herrscherpaar.

Vanessa Kirby ist wieder Spitzenklasse

Stimmt schon, der Film heißt „Napoleon“ und gehört primär diesem Mann, der zunächst mit müdem Blick verfolgt, wie die Französische Revolution ihre Kinder frisst. Aber neben und vor allem zusammen mit Joaquin Phoenix vereinnahmt Vanessa Kirby das dreieinhalbstündige Epos. Ihre Darstellung der Joséphine transzendiert die Klischees der üblichen Historienschinken. Im vierstündigen Director’s Cut, den der Produzent Apple TV bereits angekündigt hat, gibt es anscheinend viel mehr Kirby, schön.

Vanessa Kirby in "Napoleon" im Kerzenlicht

Sony/Apple

Die übersichtliche Choreografie der Schlachtszenen

Auch in überlanger Laufzeit, eine militärische Karriere nachzuzeichnen, die Europa und die Welt verändert, darf als unmöglich gelten. Ridley Scott wagt es trotzdem, teilweise im Eiltempo (in der aktuellen Version zumindest), und dem Briten gelingt es, die zentralen und komplizierten Schlachtsequenzen übersichtlich darzustellen. Jetzt kann auch ich, mit meiner einst mittelmäßigen Note in Geschichte, über Waterloo mitreden. Dass „Napoleon“ mehr auf Dramaturgie als historische Genauigkeit setzt, lässt sich da verschmerzen.

Es ist ein Film von Ridley Scott

85 Jahre, ein gewagtes Alter für jede Art von Regisseur. Erst recht, wenn es um Blockbuster mit tausenden Extras und gigantomanischer Organisation geht. Sir Ridley hat aber auch schon „Gladiator 2“ abgedreht und steckt bereits im nächsten Projekt. Dabei hat sich der Schöpfer von „Alien“, „Blade Runner“ und Produzent hunderter Filme mit den Jahren zu einem alten, weisen Mann entwickelt. Er stellt kein militärisches Massenidol auf den Sockel, sondern dekonstruiert Napoleon bis hin zur Lächerlichkeit.

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