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Sovereign Syndicate

Crimson Herring

Steampunk statt Disco

Das Rollenspiel „Sovereign Syndicate“ will in die Fußstapfen des großen „Disco Elysium“ steigen - ein ambitioniertes Unterfangen.

Von Rainer Sigl

London, Dampfmaschinen, Magie: Eigentlich braucht es nur diese drei Worte, um das Wesen von Steampunk zu beschreiben. Das Fantasy-Genre mixt die Ästhetik der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts mit Mythologie, in Literatur, Film und Videospielen.

Ausgehend von Gibsons und Sterlings „Differenzmaschine“ hat die interessante Mischung einen festen Platz in den Regalen der SFF-Literatur eingenommen. Im TV haben zuletzt Serien wie „Carnival Row“ und „Arcane“, im Kino „Mortal Engines“ und ein bisschen „Poor Things“ die populäre Nische abgefeiert.

Seinen größten Fußabdruck hat Steampunk aber vielleicht im Medium der Videospiele hinterlassen: Fast 150 Einträge listet Wikipedia in der dazugehörigen Aufzählung. Auch das kürzlich erschienene Game „Sovereign Syndicate“ spielt in einem Steampunk-Universum. Industriekakapitäne leben hier in Luftschiffen neben magischen Wesen wie Minotauren, Zwergen und Zyklopen. In dieser Welt darf ich die Geschichten von vier seltsamen Heldinnen und Helden miterleben und mitbestimmen.

Drei Schicksale, eine Story

Ein Minotaurus, der in einem Waisenhaus aufgewachsen ist, eine Prostituierte mit großen Ambitionen und ein Zwerg mit seinem Messingroboter sind meine Spielfiguren, mit denen ich abwechselnd in einem versifften, jede Menge Charles-Dickens-Tropes bedienenden Steampunk-London unterwegs bin. Anfangs sind die drei Geschichten noch getrennt, doch nach und nach verbinden sich die Schicksale.

„Sovereign Syndicate“, entwickelt und vertrieben von Crimson Herring, ist für Windows erschienen.

„Sovereign Syndicate“ zeigt seine Welt wie ein klassisches, isometrisches Rollenspiel von schräg oben, doch im Unterschied zu den meisten anderen Genrevertretern wird hier gar nicht gekämpft. Stattdessen geht es in unzähligen Dialogen um meine Entscheidungen und die Art und Weise, wie ich die Rolle meiner jeweiligen Spielfigur anlegen möchte. Ob ich etwa rücksichtslos, kühl, pragmatisch oder mitfühlend bin, wirkt sich auf die weitere Geschichte aus. Hin und wieder muss ich bei schwierigeren Aufgaben oder heiklen Dialogsituationen auch Skill-Checks ablegen, die hier nicht mit Würfeln, sondern Tarotkarten absolviert werden.

Sovereign Syndicate

Crimson Herring

Das estnische Rollenspielwunder lässt grüßen

Von weitem und auch aus der Nähe erkennt man ohne böswillige Unterstellung die offensichtliche Vorlage dieses Abenteuers: Von der Optik bis hin zu einzelnen Spielsystemen kann „Sovereign Syndicate“ sein großes Vorbild „Disco Elysium“ aus dem Jahr 2019 nicht verhehlen. Auch hier hat die Psyche meiner Spielfiguren immer ein Wort mitzureden, auch hier wartet unter der Oberfläche ein politischer oder zumindest gesellschaftskritischer Kommentar.

Die Ausnahmequalität des estnischen Rollenspielwunders, dessen Macher in den letzten Jahren leider nur mehr durch heftige, juristische Streitigkeiten aufhorchen ließen, erreicht dieser Steampunk-Epigone aber nicht. Die Liste an Details, in denen man hinter dem Vorbild zurückbleibt, reicht von fehlender Vertonung über größere Linearität bis hin zu weniger tiefen Spielsystemen.

Als Mittelding zwischen Rollenspiel und Visual Novel macht „Sovereign Syndicate“ trotzdem gute Figur: Seine Welt ist atmosphärisch dicht, seine Figuren sind interessant und die Geschichte ist bis zum Schluss spannend. Ein Rollenspiel für alle, die lieber lesen als kämpfen, und ein weiterer Beweis für die Größe seines Vorbilds, das als Ausnahmespiel vielleicht ein Unikat bleiben wird.

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