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Natural Born Killers Filmstills

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Die dunkle Seite der 90er: Ein Wiedersehen mit „Natural Born Killers“ & “Heavenly Creatures”

In der neuen Episode des FM4 Film Podcast reisen wir 30 Jahre zurück: Zu zwei sehr unterschiedlichen Filmen über mörderische Liebespaare, deren Regisseure Oliver Stone und Peter Jackson heißen.

Von Christian Fuchs

Fast wie ein fernes Fantasiereich wirken die 1990er Jahre für viele junge Menschen der Gegenwart. Eine Zeit der Aufbruchsstimmung, in der Grunge-Gitarren befreiend lärmten, pumpende Techno-Bassdrums das Ausgehen revolutionierten, Indie-Regisseure den Hollywood-Mainstream eroberten. Gleichzeitig zelebrierte man das gemütliche Abhängen als zentrales Lebensgefühl. Ungestört von Mobiltelefonen und der Kakophonie der sozialen Medien hockten Hipster in Kaffeehäusern von Berlin Prenzlberg bis Wien Neubau. Kruder & Dorfmeister lieferten mit ihren flauschigen Beats den dazugehörigen Soundtrack.

Klingt nostalgisch? Trotz vieler heikler politischer Situationen und dem Jugoslawien-Krieg mitten in Europa lebten (Berufs-)Jugendliche in den 90ies tatsächlich in einem westlichen Wohlfühl-Bubble. Der Kalte Krieg war Geschichte, eingefleischte Demokraten mit sozialen Tendenzen wie Bill Clinton standen global für eine Art Kuschel-Kapitalismus. Kein dringliches Wort noch von Klimawandel und Krisenstimmung.

Dieses trügerische Sicherheitsgefühl, mittlerweile von Nachgeborenen verklärt, sorgt damals auch für ein popkulturelles Paradoxon. Wenn die Welt rundherum nicht mehr bedrohlich scheint und die Wirtschaft floriert, kann man sich eskapistisch in dunkelste Abgründe stürzen. „The Silence of the Lambs“ leitet 1991 eine Dekade der Serienkiller im Kino ein, die auch von Magazin-Covern, Postern und T-Shirts grinsen.

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Der Mörder als medialer Dauergast

Der Serialkiller, zuvor als klassisch abschreckender Horrorfilm-Charakter in Filmen wie „Psycho“ eingesetzt, scheint plötzlich so etwas wie den perfekten, ultimativen Schurken in der gewinnorientierten Leistungsgesellschaft zu verkörpern. Was den US-Autor Bret Easton Ellis zur Figur des mörderischen Killer-Yuppies in seinem provokanten Bestseller „American Psycho“ inspiriert. Im Gegensatz zum Amokläufer, der sich fast immer selbst auslöscht, will dieser Typus nicht nur überleben, sondern triumphieren und weitermorden.

Das Monstrum „Serialkiller“ bietet auf der anderen Seite natürlich auch die für die gesellschaftliche Moral dringend notwendige Verkörperung des absoluten Bösen in einer Welt moralischer Grauzonen, korrumpierter Ideologien und zerrütteter Werte.

In den Neunzigern ist der multiple Mörder jedenfalls ein blutverschmierter medialer Dauergast, belebt Bücher, Videos, Reality TV und Boulevardpresse mit seiner schaurigen Präsenz. Woher die ungeheure Gewalt kommt, die Serialkiller an ihren Opfern ausleben, was Menschen zu solchen Taten treibt, nach diesen und ähnlichen Fragen beginnt eine ganze Industrie zu forschen. Der aktuelle anhaltende True-Crime-Boom hat hier seine Wurzeln.

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Rasante Schnitte und exzellenter Soundtrack

Obwohl der depressive Low-Budget-Schocker „Henry: Portrait of a Serial Killer” 1986 eine sozialrealistische Ära im Mörderkino einleitete, die Neunziger Jahre bogen dann doch in eine andere Richtung ab. Hannibal Lecter schaffte es als intellektueller Grusel-Gourmet ins Feuilleton (und zu den Oscars), im Gefolge des charismatischen Kannibalen tummelten sich etliche mordende Genies. Unterhaltsames Killerkino für verregnete Sonntage wurde produziert, ohne künstlerischen Wert.

Auftritt Oliver Stone. Ausgerechnet dem Verschwörungstheoretiker und überkandidelten Prediger des US-Kinos gelingt 1994 ein überraschend großer Wurf. Abgekoppelt von seinem vorherigen Schaffen übersteigert Stone in „Natural Born Killers“ den amerikanischen Mörderzirkus mit seinen eigenen Mitteln. Hektische Schnitte attackieren das Zuseherauge, der exzellente Soundtrack, von Trent Reznor zusammengestellt, pulverisiert das Gehör, Farbe und Schwarzweiß, 35mm und Videorauschen, Spuren von Narration und wilde Filmschnippsel lösen sich ab.

Stone, der zuvor als Polit-Revoluzzer im wertkonservativen Hollywood mit höchst unterschiedlichen Filmen auffällig wurde, verlässt mit der Serienkiller-Saga die Pfade des gängigen Erzählkinos. Liefert die ultimative Zitatverarbeitung ab. Reflektiert White Trash-Culture, Pulp Novels, MTV, Noise Music, True Crime Mythen, Rock’n’Roll Spiritualität. Natürlich hat das aus heutiger Perspektive etwas von einem hysterischen 90ies-Mashup. Grell, plakativ, politisch unkorrekt bis zum Anschlag. Man kann diese Übersteigerung aber auch als rare Qualität schätzen.

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Bilder des modernen amerikanischen Albtraums

Neben der furiosen formalen Umsetzung macht die inhaltliche Position den Film interessant. Oliver Stone, der alte Möchtegern-Nietzscheaner und Sozialismus-Poser, ergreift offen Partei: gegen die Macht des Fernsehens, der Boulevardpresse, gegen die Polizei und den Rest der Welt. Für die Romantik des Blutrauschs auf dem einsamen Highway.

Dieser letzte Satz ist natürlich äußerst ambivalent zu verstehen. „Natural Born Killers“ ist das Gegenteil von Outlaw-Verherrlichungen wie „Bonnie & Clyde“ (1967) oder dem verstörenden Mörderpärchen-Märchen „Badlands“ aus der New-Hollywood-Ära. Der Film ist die Bebilderung einer philosophischen Reflexion, eine psychedelische Powerpoint-Präsentation des modernen amerikanischen Albtraums.

Die beiden celebrities of crime Mickey und Mallory Knox (entgrenzt und überlebensgroß gespielt von Woody Harrelson und Juliette Lewis) sind in diesem Sinn keine Menschen aus Fleisch und Blut. Ja, nicht einmal Figuren aus einem Drehbuch von Quentin Tarantino (der sich distanzierte), sondern Symbole für alles, was in gods own country moralisch, ethisch und sozial falschläuft.

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Zwischen Sensibilität und Schrecken

Einen gänzlich anderen Tonfall schlägt ein Film ein, der im Gesamtschaffen des Neuseeländers Peter Jackson einen ebenso krassen Sonderfall darstellt wie „Natural Born Killers“ im Ouevre des Amerikaners Oliver Stone. Nach Blut- und Beuschel-Brutalo-Komödien wie „Bad Taste“ oder „Braindead“ überrascht der spätere „Herr der Ringe“ Regisseur 1994 als feinfühliger Indiefilmer der die Grenzen zwischen Sensibilität und Schrecken verschwimmen lässt.

Heavenly Creatures“ schildert die wahre Geschichte von zwei jungen Frauen, die aus unerfindlichen Gründen einen Mord begehen und sich aus ihrer dunklen Realität in ein imaginäres Tagtraum-Land flüchten. Pauline, ein verschlossenes Mädchen, das in der kleinen Stadt Canterbury in wohlgeordneten Verhältnissen aufwächst, lernt in der Schule die hübsche Engländerin Juliet kennen. Sie ergänzen einander perfekt, die extrovertierte und wortgewandte Britin und die stille Denkerin mit der schier überbordenden Phantasie.

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Irgendwann beginnt sich die Persönlichkeit der Protagonistinnen zu wandeln: Pauline, einst schüchtern und zurückhaltend, gewinnt immer mehr an Dominanz, dafür wird die zuerst so redegewandte Juliette zur passiven Hälfte. Bis zu einem fatalen Tag, der alles ändert und Juliet Hulme und Pauline Parker als „lesbischen Schulmädchen-Mörderinnen“ einen Platz in der neuseeländischen Kriminalgeschichte sichert.

Auf ganz andere Weise als „Natural Born Killers“ wirkt auch „Heavenly Creatures“ wie aus der Zeit gefallen. Manchen Computereffekten haftet der Hauch der veralteten Digitalität an. Aber die unwirkliche Atmosphäre des Films betört immer noch. Und dass sich die unterschiedlich faszinierenden Karrieren von Kate Winslet und Melanie Lynskey diesem Streifen verdanken, ist schön zu sehen.

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„Eine Mordgeschichte über die Liebe, eine Mordgeschichte ohne Bösewichte“, beschreibt Peter Jackson seinen eigenwilligen Film. Watete der nerdige Filmemacher zuvor knöcheltief in Kunstblut und schenkte er später dem Fantasy-Kino seine epochalste Saga, konzentriert er sich hier perfekt auf die Seelenlandschaften, die pubertierenden Emotionen und verwirrenden Neurosen seiner Hauptfiguren. 1994 war ein spannendes Kinojahr, auch „Heavenly Creatures“ ist eine erneute Sichtung wert.

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FM4 Film Podcast: Back to 1994 – Natural Born Killers & Heavenly Creatures

Pia Reiser und Christian Fuchs reisen im neuen FM4 Film Podcast 30 Jahre zurück: Zu zwei sehr unterschiedlichen Filmen über mörderische Liebespaare, deren Regisseure Oliver Stone und Peter Jackson heißen. Wie wirkt die einstige Kino-Provokation „Natural Born Killers“ aus heutiger Perspektive? Wie verhält sich die queere True-Crime-Studie „Heavenly Creatures“ im Gesamtwerk des „Herr der Ringe“ Regisseurs? Und warum waren Serienkiller in den Medien der 1990er Jahren so präsent? Spannende Antworten gibt es in dieser Retro-Episode.

Zu hören am Montag, 19. Februar, ab Mitternacht auf FM4 und im FM4 Film Podcast auf sound.orf.at.

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