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Abstraktes Buchcover: Ein Kreis steht auf einem Halbkreis

Leykam Verlag

Buch

Eine Analyse des Mitläufertums

Die Journalistin Solmaz Khorsand widmet sich in ihrem neuen Buch „Untertan“ dem Mitläufertum. Mithilfe von vielen historischen wie auch aktuellen Beispielen zeigt sie, weshalb Menschen sich so leichtfertig unterwerfen und anpassen. Und bietet auch eine Lösung.

Von Livia Praun

Jeder Mensch war in seinem oder ihrem Leben schon einmal Mitläufer:in. Ob in der Schule, in der Arbeit oder in der Freundesgruppe. Die anderen geben etwas vor, und man macht halt mit, passt sich an und plötzlich handelt man auf eine Art und Weise, die man eigentlich nicht mit dem eigenen Gewissen vereinbaren kann. Aber das ist noch immer besser, als alleine zu sein. Oder? Mit diesem weit verbreiteten Dilemma setzt sich Solmaz Khorsand in „Untertan“ auseinander.

Der Mechanismus, sich den anderen anzuschließen, scheint immer derselbe zu sein. Egal ob auf dem Kriegsfeld, dem Arbeitsplatz oder dem Schulhof. (...) Was ist schon ein kleines Kriegsverbrechen gegen den Ausschluss aus einer Gruppe?

In dem Buch steckt intensive Recherche. Es werden historische Geschehnisse, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Überlegungen herangezogen, um die Gründe fürs Mitlaufen, aber auch die Konsequenzen herauszuarbeiten. Nicht nur beim Mobbing auf dem Schulhof, auch bei Kriegsverbrechen und Genoziden spielen die, die mitmachen, aber auch die, die zuschauen oder sich wegducken und das Unrecht dulden, eine entscheidende Rolle. Wir haben Solmaz Khorsand zum Interview getroffen.

Autorinnenfoto Solmaz Khorsand

Luiza Puiu

Solmaz Khorsand (geboren 1985) ist Journalistin, Podcasterin und Autorin. Sie hat unter anderem bei der Wiener Zeitung, Die Zeit, derStandard.at, Datum und Republik gearbeitet.

Radio FM4: In „Untertan“ geht es um das Mitläufertum. Wie hast du zu diesem Thema gefunden?

Solmaz Khorsand: Ich gehöre einer Gruppe von Menschen an, die sich immer die Frage gestellt haben, wie viel eigentlich in der österreichischen und deutschen Gesellschaft, die voller Nachkommen von Tätern und Ermöglichern des Zweiten Weltkriegs besteht, subkutan noch vorhanden ist. Diese Frage hat mich schon sehr früh begleitet und ich musste feststellen, was Grausamkeiten angeht, ist noch sehr viel vorhanden.

Radio FM4: Wenn der Mensch in einem gewissen Umfeld ist, ist er recht schnell bereit, zu gehorchen und grausame Dinge zu tun. Du zeigst das anhand von vielen historischen Beispielen, etwa dem Nationalsozialismus oder dem Genozid von Srebrenica. Kann wirklich jeder Mensch ein grausamer Mitläufer werden?

Solmaz Khorsand: Ich habe viele Gespräche mit Experten geführt, zum Beispiel Thomas Elbert, einem deutschen Psychologen und Traumaforscher. Der würde das ganz klar bejahen, dass wir alle unter bestimmten Bedingungen zu Kriegsverbrechern und Massenmördern werden können. Er hat in seiner Forschung herausgefunden, dass wir Spaß am Töten haben. Das Einzige, was uns daran hindert, ist die Moral und die Erziehung. Und die kann eingerissen werden. Gerade bei Kindern und bei Jugendlichen geht es leichter, bei älteren Personen ist das schwieriger. Aber das Maßgebliche ist die Propaganda. Das ist ein sehr wichtiges Instrument, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Das heißt: Wir töten, foltern oder grenzen aus, nicht Menschen, sondern „Ungeziefer“ und „Parasiten“.

Radio FM4: Du bringst als Beipiel auch eine Performance der Künstlerin Marina Abramovic.

Solmaz Khorsand: Marina Abramovic, die berühmte serbische Performancekünstlerin, hat 1974 in Neapel eine Performance gemacht, wo sie das Publikum dazu eingeladen hat, mit ihr zu tun, was sie wollen. Sie ist einfach im Raum gestanden und hatte 72 Gegenstände vor sich. Da war eine Rose dabei, ein Glas Honig, aber auch ein Messer und eine Waffe. Am Anfang waren die Galeriebesucher sehr zivilisiert, aber irgendwann ist die Stimmung gekippt und sie sind richtig gewaltbereit geworden. Man hat ihr das T-Shirt aufgerissen, ihre Haut geritzt, an ihrem Hals gesaugt. Dann gab es einen Besucher, der ihr sogar eine geladene Waffe an den Hals gehalten hat, mit dem Finger am Abzug. Das fand ich ein extrem interessantes Beispiel dafür, wie wir uns als Menschen in der Gruppe verhalten, wie wir uns einer Gruppe unterordnen und als Individuum die Eigenverantwortung abgeben. Wie wir uns von zivilisierten Menschen zu Gruppen-Raubtieren entwickeln.

Cover vom Buch 'Untertan'

Leykam Verlag

„Untertan: Von braven und rebellischen Lemmingen“ ist im Leykam Verlag erschienen.

Radio FM4: Du schreibst: Manche Leute tendieren eher dazu, zu Mitläufer:innen zu werden, als andere. Was für Faktoren spielen da eine Rolle?

Solmaz Khorsand: Widerstand zu leisten ist wie viele in unserer Gesellschaft ein Privileg. Wer die Ressourcen hat und wer die sozialen Netzwerke hat, kann Widerstand leisten und sich am Arbeitsplatz auflehnen, dem Chef die Meinung geigen und kann sagen: Ich bin ein eigenständiges Individuum, weil ich habe meine zwei Eigentumswohnungen und mein soziales Netzwerk und ich finde morgen sofort wieder einen Job. Viele können das nicht.

Ein spannendes Beispiel ist das Hamburger Polizeibataillon 101 - ein extrem beliebtes Feld für die Täterforschung, weil dort ganz normale Männer Juden ermordet haben. Das waren Familienväter, gewöhnliche Hafenarbeiter, Friseure. Von knapp 500 hat sich nur ein Dutzend geweigert, Juden zu ermorden. Einer von ihnen, Heinz Buchmann, hat gemeint: Ich habe das nur als Zwischenstation gesehen für mich, für mich war der Krieg jetzt keine Karriereleiter, wo ich mich irgendwie profilieren musste. Das finde ich eine sehr spannende Parallele, auch für uns in Demokratien, wenn wir uns den Arbeitsplatz ansehen. Du bist viel freier im Kopf und viel weniger erpressbar, wenn du nicht diesen Anspruch hast, dass du in irgendeinen Arsch kriechen musst, weil du noch etwas werden möchtest. Deswegen habe ich im Buch sehr stark den Arbeitsplatz als den ultimativen Ort der Unterwerfung analysiert.

Radio FM4: Anpassung ist deiner Auffassung nach aber nicht unbedingt nur etwas Schlechtes, oder?

Solmaz Khorsand: Um als Gesellschaft funktionieren zu können, müssen wir Kompromisse eingehen. Wir müssen uns anpassen, auch aneinander. Anpassung ist etwas Gegebenes. Es ist nicht nicht schlecht und nicht gut. Es ist die menschliche Natur. Selbst die Unterwerfung muss nicht nur als duckmäuserisch gesehen werden, sondern kann auch als Akt der Rebellion gesehen werden. Ich habe in meiner Arbeit grundsätzlich den Ansatz, dass ich mich bemühe, verschiedene Facetten und Perspektiven reinzubringen.

Radio FM4: Am Ende schreibst du ein Plädoyer dafür, dass man sich sozialen Zusammenhängen und Gruppen nicht voll und ganz hingeben soll, sondern den Mut haben soll sich aufzulehnen. Auch wenn man damit riskiert, vielleicht einmal alleine zu sein.

Solmaz Khorsand: Es ist natürlich kein Plädoyer dafür, einsam zu sein. Ich versuche das nicht zu romantisieren, es ist zermürbend und es ist grausam. Es ist mir insofern wichtig, weil es genau das ist, womit viele Bewegungen und Ideologien drohen: Wenn du nicht mitmachst, dann verbannen wir dich, dann schließen wir dich aus. Wenn du aber geschult darin bist, dass das nicht das Schlimmste der Welt ist, dass man mal im Abseits steht, dann bist du viel weniger bereit, irgendwo mitzugehen, wo du eigentlich gar nicht mitgehen willst.

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