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Beth Ditto

Sony Music

Artist of the week

„What more could we ask for?“

Beth Ditto hat mit Gossip Schluss gemacht und ihr erstes Solo-Album veröffentlicht, „Fake Sugar“.

Von Natalie Brunner

Beth Ditto singt auf eine Weise, die Seelen und Herzen zur Resonanz bringt, aufwühlt und bestärkt. Ich kenne niemanden die oder den ihre Stimme nicht berührt. Bekannt und berühmt geworden ist sie mit der Band Gossip, sie war Mode-Muse in Paris und hat ein eigenes Modelabel - jetzt hat sie mit Fake Sugar ihr erstes eigenes Album herausgebracht.

„Fire“ ist die erste Single aus Beth Dittos „Fake Sugar“

Beth Ditto wurde als Mary Beth Patterson 1981 in Arkansas geboren und vom damaligen Mann ihrer Mutter, der den schönen Namen Homer Ditto trägt, adoptiert. Homer ist auch der Mensch, von dem Beth Ditto spricht, wenn sie Vater sagt. Von ihm war ihre Mutter schon getrennt, als ihr Onkel Leroy begann, sie zu vergewaltigen, so wie zuvor ihre Mutter und ihre Geschwister. Mit 27 hat Beth Ditto ihre Autobiographie „From Coal to Diamond“ (in der deutschen Ausgabe „Heavy Cross“) geschrieben, in der sie von ihrer durch Hunger, Gewalt und Missbrauch verzerrten Kindheit erzählt, aber auch vom Ankommen bei ihrer Punk Rock-Wahlfamilie in Olympia/Washington und vom Prozess ihrer Heilung:

„Von Onkel Leroy hatte ich gelernt, dass mir mein Körper nicht gehörte. Irgendwann sollte ich begreifen, dass das nicht stimmte, aber für diese Erkenntnis würde ich viele Jahre brauchen.“

Sie war mit ihrer Band Gossip gerade im Studio und nahm den Song „Holy Water“ auf, der Leroy und seine Verbrechen direkt adressiert, als ihr Telefon läutet. Homer ist dran und bringt die Kunde von Leroys Tod.

Holy water, smoke and mirrors
Boiling water, you’ll disappear
I think by now I know what evil really is
As pure as the snow, the taste on your lips

By a small fires glow
When we were only kids
Someday everyone will know
Exactly what you did
Holy water, smoke and mirrors
Boiling water, you’ll disappear
Someday everyone will hear
Then they will know who you are
You’ll have to bare the fear
Try to escape in the dark
Holy water
Escape in the dark

Coming of Age

Gossip existierte von 1999 bis 2016, ein ganzes Teenagerleben lang. Die Gründungsmitglieder Nathan „Brace Paine“ Howdeshell, Kathy Mendonça, die vor „Standing in the Way of control“ ausgestiegen ist, und Beth Ditto kannten sich noch aus der Schule in Arkanas.

Das Ende kam nicht etwa wegen Band-internen Streits, sondern weil, wie Beth Ditto in Interviews erzählt, „alles gesagt worden ist, was diese Band, und das was der große Erfolg aus ihr gemacht hat, sagen und ausdrücken kann.“

Um nichts auf diese Kindheit verzichten

Die Heilung von Beth Ditto ist vermutlich das, was ihrem Werk diese Stärke und strahlende Positivität gibt. Schon in den Interviews zum Buch sprach sie in einer Weise über ihre Vergangenheit, die die Spekulationen erlaubt, dass Feminismus und Punkrock eine ideale Theraphie waren. Auf die Frage ob sie sich eine andere Kindheit wünschen würde meinte sie:

Albumcover: BEth Ditto "Fake Sugar"

Sony Music

„Niemals, auch wenn wir als Kinder oft völlig auf uns allein gestellt waren. Wenn wir irgendetwas haben wollten, mussten wir uns selbst darum kümmern. Aber ich habe das Beste daraus gemacht. Und ich wäre heute nicht der Mensch, der ich bin. Ich wäre vielleicht nicht so kreativ. Ich bin analytischer, geduldiger – weil ich akzeptieren kann, dass wir verschieden sind, jeder hat eine andere Herkunft: Der eine war als Kind arm, der andere eben reich.“

Fake Sugar: Ausbruch aus dem Süden

Das eben erschienene Solo-Album ist voller biographischer Elemente, es erzählt vom Auf- und Ausbruch aus Arkansas, dem Hinter-sich-lassen, von dem, was Beth Ditto dort erlebt hat. Und auch von der Rückkehr, musikalisch ist „Fake Sugar“ auch ein Rekurs auf die guten Erinnerungen.

Zwei der Nummern, die sich auf den Exodus aus dem Süden beziehen, sind „Go Baby Go“ und „We could run“, erstere ist auch ein Tribut an den Suicide-Sänger Allen Vega, der am 16. Juli 2016, auf den Tag ein Jahr vor Erscheinen von „Fake Sugar“ verstorben ist.

„Love in Real life“ ist an Kristin Ogata gerichtet, Beth Dittos Partnerin und bester Freundin seit sie 18 und Ehefrau seit sie 32 Jahre alt ist. „Wir haben für gleichgeschlechtliche Ehe demonstriert, nun müssen wir lernen, in ihr zu leben“, meint sie in Interviews.

What more could we ask for?
Some kind of fantasy
There’s no one I want more
More than anything

We’re always coming up roses
And that’s alright
Cause that’s what happens when you love in real life. („Love in Real life“)

Merkwürdige Referenzen

In Reviews zu „Fake Sugar“ liest man von Fleetwood Mac, kombiniert mit balearischem Housebeat, Trentemoeller und Rockabilly, kombiniert mit eine Stimme wie Aretha Franklin, Tina Turner usw. Wenn ich so etwas lese, möchte ich die Flucht ergreifen, aber sicher nicht das Album hören.

Diese Referenzen haben eine gewisse Berechtigung, aber nicht viel Aussagekraft über das Werk von Beth Ditto. Sie holt sie in ihre Welt, macht aus ihnen etwas eigenes, verwendet sie nicht als Kategorien, die etwas Normatives haben. Normen gehören nicht in das Werk und Leben von Beth Ditto.

Beth Ditto weiß, dass der eigene Körper nur einer/einem selbst gehört, keiner Kirche, Gott, Staat, Vaterland, keinem Onkel Leroy und keiner Modeindustrie, deren kreative Spitzen Beth Ditto und ihren nicht normativen, nicht binären Zugang zu Körpern und Sexualität begeistert feiern.

Wenn selbst die Vogue einen Kniefall vor einer Künstlerin macht, die sich selbst „fat, feminist lesbian from Arkansas" nennt (das brillant und talentiert bitte ergänzen), werden sich hoffentlich künftige Generationen daran erinnern, und nicht an die zivilisatorische Auslaufmodelle des Steinzeitspatriarchats, die derzeit oft genug anzutreffen sind.

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