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Aktueller Musiktitel:

James Blake

Amanda Charchian

artist of the week

Hier kommt die Sonne

Der unaufhaltsame Aufstieg des James Blake seit seinen Anfängen als Dubstep-Abstrahierer und Posterboy des digitalen Techno-Soul hin zu einem der begehrtesten Kollaborations-Partner von Mainstream-Pop-Größen zwischen Hip Hop, Pop und R’n’B erreicht auf Album Nummer Vier, „Assume Form“, seinen vorläufigen Höhepunkt. Unser FM4 Artist Of The Week.

Von Katharina Seidler

Ein Rasierer-Hersteller sagt: Männer dürfen weinen und sollen mehr Zivilcourage zeigen, und zahlreiche Männer weltweit fühlen sich dadurch in ihrer männlichen Männlichkeit verletzt. Aus „Für das Beste im Mann“ wurde – öffentlichkeitswirksam – „be your best self“, na gut. Der Aufschrei von sogenannten Pickup-Artists und Fans von Typen wie dem amerikanischen Männerrechte-Aktivisten Jordan B. Peterson ließ nicht lange auf sich warten.

Im Popmusikbusiness werden solche veralteten Stereotypen schon länger hinterfragt. Als das britische Wunderkind James Blake circa 2010 mit seiner markerschütternden Interpretation von elektronischer Popmusik beziehungsweise souligem Post-Step innerhalb weniger EPs und einem Album zum globalen Superstar wurde, war er knapp über zwanzig, introvertiert und monatelang alleine auf Tour. In der Rezeption seiner von wasserfarbiger Melancholie durchtränkten Songs schlich sich schon bald ein leicht belächelnder Gestus ein; die Schublade „Sad Boy Music“ war geboren.

Im Zuge der Veröffentlichung seiner Single, „Don’t miss it“, im Frühling des vergangenen Jahres äußerte sich James Blake erstmals zu dem Stempel Sad Boy. „Mir ist aufgefallen, dass diese Bezeichnung immer aufkommt, wenn ich in einem Song über meine Gefühle spreche“, schrieb er in einem offenen Brief. Es folgte keine beleidigte Schmollrede, sondern eine knappe, kluge Reflexion über Männlichkeitsbilder in der heutigen Gesellschaft. „In Zeiten einer Epidemie an männlichen Depressionen und Suiziden brauchen wir keinen weiteren Beweis dafür, dass das offene Sprechen über Verletzlichkeit und Gefühle fundamental ist. Labels wie ‚sad boy music‘ tragen zur desaströsen Stigmatisierung von Männern bei, die sich emotional ausdrücken.“

Natürlich ist das Thematisieren von fragilen Seelen und einsamen Herzen in der Popmusik ganz und gar nichts Neues, dennoch scheint inmitten des Turbokapitalismus das Bewusstsein für mental health-Issues nicht nur der lyrischen Ichs, sondern auch ihrer UrheberInnen langsam und vorsichtig zu wachsen. Die Gründe dafür sind umso tragischer, die unbeabsichtigten Todesfälle von jungen Rappern wie Lil Peep oder Mac Miller durch Medikamente oder Drogen, der Suizid des Clubmusik-Superstars Avicii allein in einem Hotelzimmer auf Tour.

Kanye West hat mit „Ye“ gleich ein ganzes Album über seine bipolare Störung herausgebracht. Der Spruch auf dem Cover „I hate being bipolar, it’s awesome“ kann hierbei nur als schlechter Scherz, wenn nicht als dummer Zynismus verstanden werden – wie genau Kanyes zerrissene Platte zwischen schonungslosem Seelenstriptease und kapitalistischer Motivation zu verstehen ist, darüber ließ sich ausgiebig streiten.

Zurück zu James Blake: „Don’t miss it“ singt er im gleichnamigen Song, der auch auf seinem soeben erschienenen, vierten Album „Assume Form“ zu finden ist, und meint damit all die Alltäglichkeiten und Zwischenmenschlichkeiten, die man verpasst, wenn man mit sich und seinen dunklen Gedanken allein bleibt.

Don’t miss it
When you stop being a ghost in a shell
And everybody keeps saying you look well
Don’t miss it
Like I did

James Blake 2019

Amanda Charchian

I will assume form

Diese neue, tröstliche Stoßrichtung schlägt James Blake ab der Eröffnungsnummer, dem titelgebenden „Assume Form“, ein und hält Kurs im Lauf der ganzen Platte, die mehr noch als ihr Vorgänger aus jeder Faser Aufbruch und Heilung ruft. Ein Klavier glitzert zum Album-Auftakt, minimalistische Klopfgeräusche und sogar Geigen bilden das impressionistische Soundbett, über das Blake davon singt, wie er sich öffnen und dem direkten Kontakt mit Menschen stellen wird. „I will assume form. I’ll leave the ether. I will just fall and be beneath her. I will be touchable, I will be reachable. Cause I can already see that this goes deeper.”

Während James Blake die ersten Jahre seiner Karriere damit beschäftigt war, sich in Interviews und nachdenklich dreinblickenden Album-Coverfotos als seriöser junger Mann zu behaupten, tritt er auf „Assume Form“ mit einer neuen Entspanntheit auf. Dies hat mit seinem Umzug von London ins sonnige L.A. und seiner in den Klatschspalten gut dokumentierten Beziehung zweifellos ebenso zu tun wie mit der überwältigenden Bestätigung, die Blake in den letzten Jahren durch so ziemlich die größten Namen des aktuellen Mainstream-Pops erfahren hat. Man hat davon gehört: James Blake ist auf Beyoncés „Lemonade“ zu hören. Er hatte bei Kendrick Lamars „Black Panther“-Soundtrack ebenso die Finger im Spiel wie auf Frank Oceans „Blonde“. Rick Rubin half bei Blakes letztem Album „The colour in anything“ mit, Oneohtrix Point Never ist ebenso ein gern gesehener Studio-Partner. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Mit Songs wie „Power On“, inklusive der Zeile „Let’s go home and talk shit about everyone“, zeigt er sich humorvoller und in seinen Eigenproduktionen auch poppiger den je. Offensichtlich ist auch der Einfluss von Hip Hop auf das gesamte Album. Während eine Kollaboration mit einem Rapper wie RZA in dem Track „Take a fall for me“ vom zweiten James-Blake-Album „Overgrown“ noch aus dem Rahmen fiel, fühlen sich 2019 Travis Scotts Zeilen und Metro Boomins vorsichtige Trap-Beats in dem minimalistischen „Mile High“ ganz natürlich an. Mit der nicht nur auf den ersten Blick überraschenden Zusammenarbeit mit André 3000 („Where’s the catch?“) wird man hingehen nur schwer warm.

"Assume Form" James Blake Album Cover

1-800 Dinosaur

„Assume Form“ von James Blake ist am 18.1.2019 auf seinem eigenen Label 1-800 Dinosaur erschienen.

Zur Perfektion kommt James Blakes Meisterschaft der einfühlenden Musikproduktion im meist erwarteten Song der Platte, „Barefoot in the park“ gemeinsam mit der katalanischen Flamenco-Erneuerin Rosalía. Ihrer gleichzeitig hellen wie zart belegten Stimme bereitet der Brite ein Soundbett, das mit verfremdeten Vocals als abstrakte Melodie-Elemente an seine Album-Anfänge erinnert. Ein durch drei Filter gedämpfter Beat stolpert und stottert vorwärts, während zwei Stimmen sich auf Englisch und Spanisch wie Blätter im Wind umspielen.

Fans seiner dancefloor-orientierten EPs und der spröderen digitalen Gospel seiner Anfänge wird James Blake mit „Assume Form“ noch weiter von sich abbringen. Sein großer Verdienst ist es aber, auch in mainstream-tauglichen Popsongs, die auf riesigen Festivalbühnen erklingen werden, noch die subtilsten emotionalen Zwischentöne zu finden. Er berührt Kanye-West-Jünger und Beyoncé-Fans gleichermaßen, erwischt sie in einem kaum greifbaren Zwischenreich der Gefühle, in dem jeder Schritt vorsichtig gesetzt ist. James Blake stellt etwas vermeintlich Authentisches - sich selbst, seine Stimme, seine Emotionen - in einer gänzlich digitalen Welt dar, und erschafft sich als „Ingenieur des Ichs“, wie der große deutsche Pop-Theoretiker Jens Balzer schreibt, durch die technischen Möglichkeiten ebendieser Welt neu.

Doesn’t it seem much warmer
Just knowing the sun will be out?

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