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Kinder mit "No Violence" Pappschild auf der Anti-Rassismus-Demo

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

„Komme Hölle oder Hochwasser“

Die Stimmung in Großbritannien spitzt sich weiter zu: Auf den Straßen meiner Stadt wird ein deutsch-libanesischer Austausch-Schüler ins Koma befördert. Indessen sprechen die Konservativen auf ihrer Suche nach einem neuen Premierminister bereits offen von der Ausschaltung des Parlaments zugunsten eines harten Brexit.

Von Robert Rotifer

Die konservative Partei Großbritanniens, also jene Kraft, die bei den Europawahlen vor zweieinhalb Wochen gerade einmal auf 9,5 Prozent kam, ist gerade dabei, einen neuen Premierminister für Großbritannien zu bestimmen. Die gesamte britische Medienöffentlichkeit widmet sich einzig den internen Diskursen einer Partei, die sich allen Wahlergebnissen und Umfragen zum Trotz als die „natural party of government“ versteht, und in spätestens viereinhalb Monaten könnte ganz Europa von den Entscheidungen dieser elitären, insularen Minderheit empfindlich betroffen sein – aber ich fürchte, bevor ich über die hinter bröckelnden neugotischen Fassaden inszenierten, jüngsten Schwänke von Westminster berichte, muss ich hier erst einmal ein bisschen Realität zum Spitzbogenfenster hereinlassen:

Vorgestern Abend war ich nämlich wieder einmal auf einer Demo gegen Rassismus, einer kleinen, passend zu meiner kleinen Gottseidank-nicht-dauernd-in-London-Zufluchtsstadt Canterbury.
Der Anlass war ein sehr dringender: Eine knappe Woche davor war zum ersten Mal überhaupt je ein Rettungshubschrauber im Zentrum der Stadt gelandet, denn mitten in der Rose Lane zwischen den Shops des Einkaufsviertels Whitefriars lag ein 17-Jähriger mit schweren Kopfverletzungen bewusstlos auf dem Straßenpflaster.

Anti-Rassismus-Demo in Canterbury

Robert Rotifer

Laut Augenzeug*innenberichten hatte es eine Rauferei mit an die 40 beteiligten Schüler*innen, der Großteil davon in Uniformen einer der hiesigen Sekundärschulen, gegeben, von denen später sechs wegen Verdachts auf schwere Körperverletzung festgenommen wurden (plus ein Erwachsener wegen des Verdachts, einen der Festgenommenen gedeckt zu haben). Das Opfer der Attacke war ein Austausch-Schüler aus Deutschland, der dem Vernehmen nach selbst als kleines Kind als Flüchtling aus dem Libanon dort angekommen war.

Seine Angehörigen konnten zunächst nicht nach Großbritannien kommen, um ihn im Londoner Spital zu besuchen, wo er notoperiert werden musste und seither immer noch im Koma liegt. Denn im Gegensatz zu ihrem Kind haben sie libanesische Pässe und das Home Office bestand auf der Ausstellung von Visa, die mindestens fünf Tage dauern würde. Es bedurfte der Intervention unserer (Labour-)Abgeordneten Rosie Duffield, um Innenminister Sajid Javid auf die Idee zu bringen, der Familie per Weisung die Visumspflicht zu erlassen.

Ich las davon zuerst aus dem Guardian, dann aus der Lokalzeitung, zwischendurch hörte sich unsere Tochter unter ihren Freund*innen um, und wir erfuhren einige Sachen, die man nicht sicher genug weiß, um sie hier zu schreiben, zumal sie gerichtsanhängig sein werden.

Sagen wir es so, es war sehr schlüssig und wie gesagt dringend, dass es als Reaktion auf den Vorfall in Canterbury eine Demo gegen Rassismus geben musste.
Und natürlich hat der Brexit damit zu tun, dass man angesichts der feindseligen Stimmung unter Teilen der Bevölkerung nicht einmal mehr ganz sicher sagen kann, ob der Teenager nun wegen seiner nicht-weißen Erscheinung, wegen seines Deutschseins oder einer Kombination von beidem angegriffen wurde.

Kinder mit "No Violence" Pappschild auf der Anti-Rassismus-Demo

Robert Rotifer

Um hier jetzt nicht Panik zu schaffen: In Canterbury verbringen jährlich Hunderttausende Austauschschüler*innen eine (hoffentlich halbwegs) gute Zeit ohne ernste Zwischenfälle. Ein sichereres Städtchen kann man sich in diesem Land nach wie vor kaum vorstellen.
Aber ein hiesiger Fremdenführer, der in einer spontanen Crowdfunding-Aktion umgerechnet knapp 10.000 Euro für die Familie des Opfers gesammelt hat, bestätigte mir nach der Demo, dass auch andere europäische Austauschschüler*innen Post-Brexit-Aggression zu spüren bekommen hätten.
Kein Wunder, schließlich haben sich die Zahlen xenophober und rassistischer Angriffe seit dem Brexit-Wahlkampf vor drei Jahren vervielfacht, und die Stimmung im Land hat sich seither alles andere als entspannt. Auf Besorgnis erregende Weise.

Trotzdem (oder gerade deshalb) schaffte es dieser Vorfall - abgesehen von besagtem Guardian-Artikel - nicht in die britischen Medien. Denn diese kennen derzeit, wie einleitend geschrieben, überhaupt nur mehr eine Story, und jene heißt, reden wir nicht drum herum, Boris Johnson.

Ich hab im ersten Satz dieses Blogs ja die männliche Form für Premierminister verwendet, denn die einzigen zwei Kandidatinnen für den Posten, Andrea Leadsom und Esther McVey, wurden gestern schon in der Vorwahl eliminiert. Beide sind ihrerseits übrigens harte Brexiteers mit sogenannt „konservativen“, objektiv gesehen reaktionären Ansichten, von der Infragestellung des Abtreibungsrechts bis zur praktizierten Homo- und Xenophobie, da ging also nichts an Potenzial zur positiven politischen Veränderung verloren.

Dennoch bleibt festzustellen: Der nächste Premierminister wird nicht nur ein Gockel, sondern aller Voraussicht nach der größte Gockel von allen:

114 konservative Parlamentarier*innen stimmten gestern für Johnson, nur 43 für den Zweiten, den derzeitigen Außenminister Jeremy Hunt, 37 für den Umweltminister Michael Gove, 27 für den fanatischen Ex-Brexit-Minister Dominic Raab, 23 für erwähnten Sajid Javid, 20 für den derzeitigen Gesundheitsminister Matt Hancock, der mittlerweile bereits freiwillig ausgestiegen ist, und 19 für Rory Stewart, den einzigen aller Kandidaten, der einen No-Deal-Brexit ausschließt.
Was letzteren allerdings nicht daran hinderte, vorgestern im Unterhaus gegen einen Labour-Antrag zu stimmen, der das Verhindern eines harten Brexit gesetzlich verankert hätte.
Hätte ihn glatt seinen Unique Selling Point gekostet, also einigte er sich mit sich selbst darauf, dass niemand anderer als er als Premierminister einen harten Brexit verhindern könnte.

Gockel, sag ich ja, und der fetteste von ihnen mit dem charakteristisch weißblonden Kamm eindeutig in Führung.

Ich hab jetzt, ehrlich gesagt, gerade keine Lust darauf, all die rassistischen Entgleisungen des Boris Johnson, seine Lügen einst als Brüssel-Korrespondent des Daily Telegraph oder jüngererdings in der Brexit-Kampagne 2016 noch einmal aufzuwärmen, selbst wenn’s immer wieder nötig ist. Schließlich kommt der Herr in seiner patrizierhaften Selbstverständlichkeit mit Dingen davon, die andere längst ihre Karriere gekostet hätten.

Aber vielleicht sollten wir uns eher damit beschäftigen, was passiert, wenn er denn tatsächlich jenen Job kriegen sollte, dem er schon seit Jahrzehnten hinterher intrigiert.

Dem Protokoll nach sollte es noch bis Ende Juli dauern, ehe die weniger als 100.000 aktiven Tory-Parteimitglieder mit einem Durchschnittsalter von zwischen 65 und 75 Jahren das Privileg erhalten, zwischen den bis dahin ausgesiebten, zwei stärksten Kandidaten zu wählen. Beschleunigen kann sich das nur, wenn Johnsons Konkurrenten – so wie die Theresa Mays im Sommer 2016 – vorzeitig kapitulieren.

Das halte ich allerdings für eher unwahrscheinlich, denn Boris Johnson hat unter anderem die erst vom Rechtsaußen William Rees-Mogg aufgebrachte, dann von Dominic Raab erfolgreich enttabuisierte, ultimative Drohung aufgegriffen: Eine zwischenzeitliche Ausschaltung des Parlaments („prorogation“). Zur Sicherstellung eines Ausscheidens aus der EU am 31. Oktober gegen den Willen der Mehrheit des Unterhauses.

Der sogenannte Volkswille also, der gegen den des Parlaments durchgesetzt werden muss. Kommt Österreicher*innen aus Gegenwart und Geschichte sicher bekannt vor.

Rory Stewart jedenfalls hat gestern (durchaus ernsthaft) gemeint, er würde in einem solchen Fall ein Gegenparlament einberufen, um Johnson abzusetzen. Hysterisches Zeug natürlich, aber wenn in einem innerkonservativen Machtkampf die Sprache des Bürgerkriegs gesprochen wird, dann sieht es mit einer kampflosen Krönung einmal nicht so gut aus.

Und um die Brexit-wütige Tory-Mitgliedschaft auf seiner Seite zu halten, wird Johnson seine No-Deal-Drohungen weiter bekräftigen müssen. Er habe ihm einen EU-Austritt Ende Oktober versprochen, „come hell or high water“, sagte der Boris-begeisterte Brextremist und Unterhaus-Abgeordnete Mark Francois gestern in einem Interview. Die Hölle oder Hochwasser, sprich, jede Katastrophe muss riskiert werden, um das Glaubensziel zu erreichen. Kriterien der Vernunft gelten hier per se schon als Verrat.

Und erstaunlicherweise ist es dabei noch immer kein großes Thema, dass es laut regierungsinternen Dokumenten absolut keine Chance gibt, das Land rechtzeitig auf ein No-Deal-Szenario vorzubereiten. In welchem Fall der vielbeschworene Volkswille einem neuen Premierminister Johnson dann doch ziemlich schnell auf den Kopf fallen könnte. Seine Intelligenz wird stets beharrlich überschätzt, aber soviel sollte auch er eigentlich schon wissen.

Die Frage wird also sein, wie weit nicht nur sein eigener Leichtsinn reicht, sondern auch jener der britischen Medienöffentlichkeit, die meint, sie könne es sich leisten, Ereignisse wie die auf den Straßen von Canterbury zu ignorieren.

"Stand up to Racism" Plakat auf der Demo

Robert Rotifer

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