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Suhrkamp Verlag

Ann Cottens neuer Erzählband „Lyophilia“

Zwölf Erzählungen versammelt die österreichische Autorin Ann Cotten in ihrem neuen Buch - kaltschnäuzig und lässig im luftleeren Raum.

Von Daniel Grabner

Staubsaugen im Weltall

Es ist, wie man dem Einband eingeschüchtert entnimmt, „Science-Fiction auf Hegelbasis“. Dieser Hang zum literarischen Experiment durchzieht Cottens Werk von Beginn an. Ihr Debüt lieferte die in Iowa geborene und in Wien und Berlin lebende Autorin 2007 ab. Die grandiosen „Fremdwörterbuchsonette“ (Gedichte über Fremdwörter in Sonett-Form) zeugen von diesem verspielten Zugang. Ebenso „Verbannt!“ von 2016, das von einer Moderatorin handelt, die auf eine Insel verbannt wird, nachdem die Affäre mit der minderjährigen Tochter einer Kollegin auffliegt. Das Wahnwitzige an „Verbannt!“: Es handelt sich um ein Versepos, bestehend aus 403 sich reimenden Spenserstrophen. Solche Experimente sind riskant, bei Ann Cotten glücken sie und gehen auch immer über die kurzlebige Pointe eines bloß extravaganten Formalismus hinaus.

Lyophilie: die leichte Löslichkeit der Stoffe

Nachdem sich Cotten im vergangenen Jahr auch mit szenischen Texten beschäftigt hat (im Wiener Schauspielhaus mit dem Stück „Elektra – Was ist das für 1 Morgen?“ zum Beispiel), nun also wieder klassisches Erzählen.

Die Geschichten in „Lyophilia“, mal sind das Prosaminiaturen von wenigen Seiten Länge wie „Tullner Creeks“, mal Erzählungen vom Ausmaß eines Romans wie „Proteus oder Die Häuser denen, die drin wohnen“, bedienen sich zwar klassischer Science-Fiction-Sujets wie Zeitreisen, Paralleluniversen oder Kontakt mit Außerirdischen, doch wirkt das eher wie ein Vorwand oder Vehikel, um eine Außenperspektive auf so etwas wie „die Menschheit“ zu bekommen.

Cottens Geschichten sind voller absurder Ausgangslagen und Handlungsverläufe, trocken heruntererzählt und dadurch auch voll Witz. Sie nutzt das Genre, um mittels dieser Versuchsanordnungen über teils recht abstrakte philosophische und große gesellschaftliche Konzepte nachzudenken. In „In einer Kneipe im All“ beispielsweise versucht ein Typ von der Erde, einer Frau von einem anderen Planeten die Grundlagen des Erden-Kapitalismus und die Beschaffenheit digitaler menschlicher Kommunikation und deren Entwicklung (in der von der Autorin vorgestellten Zukunft) zu erklären.

In der Technik ist alles in Ordnung, das Ziel, das ja so dubios ist, verschwindet. Drohnen, die beste Wahrnehmungsform. Zuerst kam der Trend zum lucid dreaming, dann die Drohnen. Es ist lustig, sich selber von außen zu sehen. AI ist auch aus demselben Grund so eine gefällige Sache. Pygmalion-Syndrom. Manche Leute haben Angst; das ist auch nur ein Kitzel wie öffentliche Meinung. Wie wäre eine Maschine in meinem Abbild? Es klingt wie ‚ich ohne Kompromisse‘, ‚ich als Ideal‘.

Danach haben die beiden orgiastischen Sex, in dem sehr viel Gips und rohe Eier eine etwas rätselhafte Rolle spielen. In einer anderen Geschichte unternimmt ein Paar mit psychotropen Substanzen eine geistige Zeitreise und „Putztruppweisheiten“ ist das kurze Protokoll aus dem Leben eines Langzeitarbeitslosen, der in den „kosmischen Wartungsdienst beordert“ wurde, wo er gefährliche aber monotone Reinigungsarbeiten mit einem Staubsauger im All durchführen muss.

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Der Sound des Bruchs

Der Sound des Unvorhersehbaren, des Assoziativen und des Bruchs durchzieht Ann Cottens Prosa. Immer wieder prallen unterschiedliche Jargons wie Bildungsjargon, gehobenen literarischer Stil, Szenesprache und Dialekt innerhalb nur weniger Sätze aufeinander. Da ist im ersten Teil eines Satzes noch vom „Bürokubus mit Blick auf die Hochbeetlandschaft“ die Rede, dass der Satz dann mit dem wienerisch angehauchtem „Voglbrunz“ endet, damit rechnet niemand.

Der teilweise exzessive Einsatz sprachlicher Bilder ist ein buntes Kuddelmuddel aus allem, was das Universum so hergibt. Ein beleuchteter Balkon in der Nacht wird zur „halb aufgegangenen Lade“, aus der „es wie vergessene Uranproben“ strahlt, und eine mit viel Alkohol ausklingende Nacht geht „langsam, blubbernd unter, wie ein blutiges Schiff in einem Meer von Öl“. Das alles wird in „Lyophilia“ mit einer Kaltschnäuzigkeit und Lässigkeit miteinander verbunden, dass einem oft die Luft wegbleibt.

Wien ist ein einziges Jonasreindl, eine Kuhle im Marchfeld, ein Suppentopf voll mit dubiosem Gemüse, hauptsächlich Lauch, der in seine Fasern zerfällt und eine Art organische Zerfallsmusik abgibt.

Cotten zu lesen heißt immer wieder, auf den Text selbst, auf seine „Gemachtheit“ hingewiesen zu werden, wer „ganz in der Geschichte versinken“ will, wird hier wahrscheinlich nicht glücklich werden. Spätestens nach dieser Veröffentlichung wird’s wohl in den Literaturinstituten und Klassen für kreatives Schreiben einen Cotten’schen Herrgottswinkel geben.

Paralleluniversen und Ginseng

Dass Cotten aber nicht nur die kurze Form beherrscht, zeigt sich auch in der Erzählung „Proteus“, die gut 200 Seiten lang ist. Auf einem Kunstfestival in Slowenien lernen sich der junge Musiker Zladko und die verheiratete Parteivorsitzende Ganja kennen, bei einer Führung durch eine Tropfsteinhöhle verlassen die beiden die Gruppe und haben Sex im Dunkel der Höhle. Zladko, der eigentlich nichts vom Leben will, verliebt sich in Ganja, die wiederum eine Affäre mit Xin beginnt, der im Begriff ist, high-machenden Ginseng zu kultivieren.

Ich stelle mir das Paralleluniversum vor wie eine Art Walfisch ohne WLAN. Und dann noch einen. Und dann noch einen.

Für die Literaturnerds: Ein einstündiges Interview mit Ann Cotten inklusive Lesung aus „Lyophilia“ als Podcast:
open.spotify.com

Gerade in diesen großen Geschichten wie „Proteus“ ist die Handlung Richtstrahl, von dem aus sich dann viele kleine Gedankengänge ab- und überall hin verzweigen. Diese Gedanken werden dann oft nicht zu Ende, nur angedacht. Die Sätze sind voller Tretminen mit neuen unvorhersehbaren Richtungen, voller Nester mit neuer Bedeutung. Das macht Cottens Texte zu multireferenziellen Feldern, bei denen man ständig das Gefühl hat, etwas zu verpassen, ähnlich wie in einem fahrenden Zug die Landschaft. Dass das geht, zeugt von Autorität über die Sprache. Was für ein Repertoire, was für eine spaßige Frechheit.

Die Figuren in „Proteus“ sind von einem Nihilismus befallen, es sind intelligente, nachdenkliche Menschen, überreflektiert und deswegen immer auch neben sich und orientierungslos. Zladko wird mit Ganjas Sohn „Space Cowboy“ und deren Mann „Depp“ Sex haben. Nebenbei verschwindet Israel in einem Paralleluniversum, bevor dann auch noch Außerirdische ins Spiel kommen. Dazwischen ist Platz für Abgründe, Melancholie und Schönheit. Ja, das geht sich alles irgendwie aus. Ann Cotten kann das.

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