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MARC CARNAL

Ich versuche, Millennials den Domino Day zu beschreiben

Dieser Text soll Millennials am Beispiel der Grotesk-Sendung Domino Day erläutern, was man früher unter „TV-Ereignis“ verstanden hat. Jugendliche, seid gefälligst zufrieden mit dem Internet!

Eine Kolumne von Marc Carnal

Als ich ein waschechter Jugendlicher mit Zahnspangen-Mundgeruch, talgiger Stirn und unausgereiften Proportionen war, gab es noch sogenannte TV-Ereignisse. Nachdem damals noch keine Online-Mediatheken erfunden waren und Streaming bedeutete, mit dem RealPlayer ein verpixeltes Ruckelbild betrachten zu müssen, war man von Ausstrahlungszeiten und dem Sanctus der Erziehungsberechtigten abhängig. Unter einem TV-Ereignis verstand man eine familientaugliche Sendung mit Millionenquote, über die man sich am nächsten Schultag austauschen konnte.

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“Wetten, dass…” war beispielsweise eine solche Sendung. Alle vier Wochen schlief man gegen 23.30 Uhr nach über drei Stunden nervenzerfetzender Langeweile vor dem Fernseher ein und hatte am folgenden Montag reichlich Pausen-Gesprächsstoff über Wettkönige, die mit Motorrädern über Schisprungschanzen gedüst waren oder unvereinbare Welten, die sich auf Gottschalks Riesensofa für einige Minuten begegneten, zum Beispiel Michael Jackson und Hermann Maier. Diese Begegnung habe ich mir übrigens nicht ausgedacht!

Ein solches TV-Ereignis war auch der von 1998 bis 2009 jährlich stattfindende “Domino Day”, der auf RTL und ORF1 live übertragen wurde. Die Idee dieser Eurovisions-Sendung war ziemlich bizarr. Es ist ein Rätsel, dass dieser Fiebertraum von TV-Konzept überhaupt jemals umgesetzt wurde. Ich versuche nun, diese strange Show zu erklären, ohne meine Angaben auf youtube zu überprüfen, berichte also aus dem Gedächtnis von einer Fernsehsendung, die ich vor rund fünfzehn Jahren zuletzt gesehen habe, an die ich mich aber noch erstaunlich gut erinnern kann:

Um einen Domino Day zu ermöglichen, wurden immer unzählige Freiwillige gesucht, die bereit waren, wochenlang ihre Lebenszeit zu verschwenden, indem sie Domino-Steine aufstellten. Hunderttausende Steine wurde in einer erdbebensicheren Messehalle hinter- und nebeneinander aufgereiht. Von oben betrachtet ergaben die bunten Steine unterschiedlichste Bilder und Figuren. So wurden - je nach Jahresmotto - etwa die Mona Lisa, ein Schwertwal oder die Brooklyn Bridge mit Domino-Steinen nachgebildet.

Den Thrill der Veranstaltung bestand darin, dass vom Team - also jenen irren Jugendlichen, die sämtliche Steine aufgestellt hatten, und ihren Betreuern (Typ Jungschargruppenleiter) - ein Countdown runtergezählt wurde, an dessen Ende der erste Stein umgestoßen wurde. Dieser löste die gewünschte Kettenreaktion aus. Dann sah man stundenlang dabei zu, wie Domino-Steine umkippten.

Allzu spektakulär war das nicht aus der Vogelperspektive. Man musste schon ziemlich genau hinsehen, um überhaupt zu erkennen, dass die Steine der Reihe nach fielen. Die “Bilder” veränderten bei der üblen Bildqualität des Röhrenfernsehers nur leicht die Farbe. Die Kommentatoren versuchten hingebungsvoll, die Spannung aufzubauschen, indem sie ohne Unterlass betonten, dass die Kettenreaktion jederzeit ein Ende finden könnte und dass der Rekordversuch dann gescheitert wäre. So ganz verstand man diese Befürchtung nie. Wie ungeschickt hätten die Helfer die Steine bitte aufgestellen müssen, dass ein Ende des Umpurzelns im Raum stand? Hatte denn niemand die Abstände kontrolliert?

Tatsächlich gab es immer wieder ganze “Bilder”, die stehen blieben. Doch glücklicherweise war alles so konzipiert, dass die Kettenreaktion dank irgendwelcher “Sicherheitsbahnen” trotzdem weiterlief.

Für etwas Abwechslung sorgten zwei Bonus-Elemente. Erstens Interviews mit den Jugendlichen, die immer mit feuchten Augen davon erzählten, wie sie beim Aufbau durch ein Missgeschick die Kettenreaktion ausgelöst und tausende Steine umgeworfen hatten. Zweitens Werbepausen. Damit man dabei keine purzelnden Spielsteine verpasste, hatten die Kreateure des Domino Day einen Kniff ausgeheckt: Eine Art Pendel schwang minutenlang im Kreis. Nach dem Werbeblock war der Schwing-Radius klein genug, um einen zentral postierten Dominostein umzuwerfen und so für eine Fortsetzung der Kettenreaktion zu sorgen.

Am Ende der Sendung wurde feierlich verlautbart, dass 850.424 Domino-Steine umgefallen waren. Auch die Jugendlichen und ihre Betreuer fielen, und zwar einander hysterisch in die Arme, während die Guinness-Redaktion den Eintrag für “Dominosteine-Umfall-Weltrekord” updaten musste.

Für heutige Jugendliche dürfte meine Beschreibung des Domino Day unglaubwürdig sein. Ihr zeitgemäßer Medienkonsum wird sie daran zweifeln lassen, dass eine derart langweilige Veranstaltung einst Millionen Wohnzimmer synchron füllen konnte. Aber ja, so traurig war das Entertainment-Angebot in den Zeiten vor Twitch, Netflix und Fortnite. Deshalb, liebe Millennials: Seid gefälligst zufrieden mit dem Internet! Wärt ihr nur ein, zwei Jahrzehnte eher geboren, ihr hättet eure Wochenenden damit zubringen müssen, Dominosteinen beim Umfallen zu betrachten. Demütig und dankbar solltet ihr sein für euer Glück der späten Geburt!

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