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Protesters

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ROBERT ROTIFER

Es schürzt sich schon, ehrlich.

Jetzt also doch Neuwahlen im UK! Wie zynische Parteiinteressen und das Kollabieren der People’s Vote Kampagne zu den dritten britischen Unterhauswahlen in viereinhalb Jahren führten. Und was das für den Br*x*t bedeuten kann.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Gestern erst hatte ich auf Tw*tt*r eine kleine Auseinandersetzung mit einem Freund über die geächtete Figur des Arschlochs mit dem Laptop, dem man überall in Londoner Cafés begegnet, arbeitend und geschäftig, Tippgeräusche von sich gebend.

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

In dem Moment, wo ich das hier schreibe, bin dieses Arschloch ich selbst, sitzend in einem Pub in Nord-London, wo ich gerade noch den Luxus genoss, in anderer Mission eine beneidenswert poetisch gepolte Person musikalischen Interesses zu interviewen.

Und jetzt, wo ich mich gerade gezwungenermaßen meiner Blogger-Pflichten wegen aus dieser durchgeistigten Blase hinaus in die Kühle der politischen Realität zwinge, muss ich wieder an die verlorenen drei bis vier Jahre denken, die uns die ganze Br*x*t-Scheiße gekostet hat. Verlorene Zeit, die wir so viel besser verbringen hätten können.

„Es schürzt sich schon“, pflegte meine Mutter immer zu sagen, wenn sich im Fernsehen ein langweiliger Krimi auf dem Weg ins letzte Drittel anschickte, endlich Fahrt aufzunehmen. Und irgendwo an diesem Punkt stehen wir jetzt wohl, nachdem das Unterhaus sich nun gestern – bereits zum zweiten Mal seit dem schicksalshaften Referendum – auf Neuwahlen geeinigt hat. Und zwar am 12. Dezember.

Im Gegensatz zu 2017 werden diese aber diesmal was weiterbringen, denn nach allen Regeln der politischen Schwerkraft gibt es eigentlich nur zwei mögliche Ausgänge: Eine konservative Mehrheit oder ein sogenanntes „Hung Parliament“, also ein Unterhaus ohne eindeutige Mehrheit.

Bevor ich erkläre, was das für den Br*x*t bedeutet, noch ein, zwei Worte dazu, wie wir an diesem Punkt angelangt sind:

Protesters

APA/AFP/Tolga AKMEN

Wahlen gewinnen - wichtiger als Br*x*t stoppen

Die SNP (schottische Nationalist*innen) waren innerhalb des wackligen Anti-Brexit-Oppositions-Bündnis immer schon die Fraktion gewesen, die auf schnellstmögliche Neuwahlen drängte.

Erstens, weil es jetzt gerade so aussieht, als könnte man praktisch alle der 2017 an die Tories verlorenen schottischen Parlamentsitze wieder zurückerobern. Eine Gelegenheit, die nicht verpasst werden will.

Zweitens, weil selbst in dem Fall, dass Boris Johnson gleichzeitig auf nationaler Ebene gewänne, ein daraus resultierender harter Brexit die Chancen auf ein neues schottisches Unabhängigkeitsreferendum deutlich steigern würde. Das ist in der Endrechnung für die SNP wichtiger als ein zweites Brexit-Referendum.

Kritische Masse erreichte dieser Drang, als dann übers Wochenende die Liberaldemokrat*innen ebenfalls auf Neuwahl-Linie umschwenkten. Vermutlich detto, weil deren Chefin Jo Swinson die beste Zeit gekommen sieht, von Labour und Tories gleichermaßen enttäuschte Remain-Wähler*innen auf ihre Seite zu holen.

Eine Chance, die es offenbar wert war, die gerade noch so existenzielle Forderung nach einem zweiten Referendum erst einmal aufzugeben. Obwohl - oder vielmehr gerade weil - Labour sich endlich auch auf ein solches festgelegt hatte. Das hätte in Konsequenz zwar der Sache genützt, aber den ganzen Unique Selling Point der Libdems vernichtet.

In dem Fall also dann lieber doch Neuwahlen.

Klingt zynisch und angesichts der damit verbundenen Risiken für das Land einigermaßen verantwortungslos, und ist es auch.

Allerdings: Bevor es gestern zur Entscheidung kam, waren hinter den Kulissen offenbar schon länger absehbare Anzeichen schlimmer Konflikte innerhalb der „People’s Vote“-Kampagne für ein zweites Referendum zutage getreten, im Genaueren zwischen drei bis vier rivalisierenden Gockeln im organisatorischen Zentrum der Bewegung, die ihre Mission offenbar eher als Gelegenheit zur persönlichen Profilierung interpretierten (Namen erspar ich euch, ist auch egal, aber jeder von ihnen ein destruktiv dynamisches Mannsbild). Eine Spaltung dieses für jede Kampagne in einem potenziellen zweiten Referendum unentbehrlichen Zweckbündnisses schien also nicht mehr weit entfernt.

Downing street 10

APA/AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS

Jene in der Labour Party, die (meiner Meinung nach zurecht) ein Referendum, gefolgt von einer Neuwahl für die richtige Reihenfolge gehalten hätten, mussten sich schließlich dem Druck der Fraktion rund um Parteichef Corbyn beugen.

Der wollte immer schon lieber eine Neuwahl, auch wenn die Umfragen ihn als bevorzugten Premierminister immer weit abgeschlagen auf Platz drei hinter Boris Johnson und „weiß nicht“ führen. Aber das hab ich hier ja alles neulich schon erwähnt.

Für eine ganz kurze Zeit jedenfalls hab ich Großbritannien gestern wieder so richtig geliebt. Nämlich an jenem Stand der Ereignisse, als Lib/Lab/SNP sich darauf einigten, der von Premier Johnson angestrebten Neuwahl nur mit einem „Amendment“ zuzustimmen, das diesmal 16- und 17-jährigen, so wie im UK lebenden EU-Bürger*innen die Wahlteilnahme erlaubt hätte.

Johnson und Konsort*innen drohten daraufhin gleich, den Antrag auf Neuwahlen sofort wieder zurückzuziehen, da – so zitierte ein twitternder Journalist Johnsons Strategen Dominic Cummings – ein Einbeziehen der EU-Bürger*innen die „Wahlarithmetik entscheidend verändern" würde.

Diese vorgeblichen Demokrat*innen gaben also offen zu, dass sie aus eigenen Interessen lieber gar keine Wahl abhielten als eine, bei der alle im Land wohnenden Menschen mitwählen können (nicht „alle“, denn UK-Bewohner*innen mit Nicht-EU- und Nicht-Commonwealth-Nationalitäten werden gar nicht einmal im Wahlregister geführt, aber es wäre ein erster Schritt gewesen).

Wie gesagt, ein paar Stunden lang sah es tatsächlich so aus, als könnte das Lib/Lab/SNP-Amendment das ganze heuchlerische Sündenbock-Spiel des Brexit in einem eleganten Streich entlarven und entwaffnen, aber dann kam der Deputy Speaker Lindsay Hoyle dazwischen, der das Amendment über unsereiner Wahlrecht einfach nicht zur Abstimmung zuließ.
Und damit war alles vom Tisch.

So geht’s. Monatelang waren wir voll der Bewunderung dafür gewesen, was ein Speaker wie John Bercow im Alleingang dem Unterhaus alles an Möglichkeiten zum demokratischen Eingriff bieten kann, und dann ist er nur einmal kurz am Klo, und dieselbe Macht wird von seinem Stellvertreter benützt, um uns das kleine bisschen Hoffnung auf eine bessere Welt ohne Erklärung wieder unter der Nase wegzuziehen. Ganz ohne Begründung.

Können wir nun also doch nicht wählen. Und bevor ihr sagt: „Ist ja sonst auch nirgendwo anders.“ Mag sein, aber erstens gehört es auch dort geändert, und zweitens dürfen im UK ja im Gegensatz zu unsereiner auch Commonwealth-Bürger*innen und Ir*innen mitwählen - eine exzentrische Ausnahme, die in diesem spezifischen Zusammenhang stark nach Unrecht duftet.

Kommen wir also zurück zu den zwei möglichen Ausgängen:

Falls Boris Johnson – und das ist trotz seiner Führung in den Umfragen alles andere als fix – tatsächlich eine Mehrheit hinbringt, ist gar nicht auszurechnen, was für eine Art von Brexit uns droht (doch, ich werde ausrechnen, aber ein andermal).

Falls es dagegen - wahrscheinlicher - zu einem „Hung Parliament“ kommt und die Tories in der Minderheit bleiben, dann MÜSSEN Lib/Lab/SNP miteinander eine Art Regierungsbündnis und eine Strategie für ein zweites Referendum aushecken, denn dann gibt es gar keinen anderen Ausweg mehr.

Daher: Es schürzt sich schon.

Und nächstes Mal versuch ich dann zu erklären, wie das britische Mehrheitswahlrecht, der unterschiedliche Remain/Leave-Subtext in jedem einzelnen Wahlkreis und der uneinschätzbare Faktor von Nigel Farages Brexit Party diese Wahl völlig unberechenbar machen.

Jetzt aber macht das Arschloch sein Laptop dazu.

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