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Blumenaus 20er-Journal

Drei Fragen nach dem Protestsongcontest...

… und Versuche von Antworten. Und die Geschichte des aus einem Missverständnis heraus entstandenen 2. Platzes.

Von Martin Blumenau

Drei Fragen treiben mich seit gestern Nacht, seit dem Protestsongcontest 2020 im Wiener Rabenhof, den Dino aka Dynomite hochverdient gewonnen hat, um:

1) Ist der Dieter-Nuhr-Satz („Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Fresse halten“) überhaupt praktisch anwendbar?

2) Wie legitim ist Kritik an einer Frage, die ihre Haltung allzu deutlich vor sich her trägt? Und wie weit darf sie gehen?

3) Wie wichtig ist historische Genauigkeit im Umgang mit den aufkeimenden nationalistischen und antidemokratischen Tendenzen heute und dem Aufstieg der NSDAP damals?

Vor den möglichen Antworten noch kurz zum besten Missverständnis des PSC. Beteiligt sind Manuel Normal, seine Kumpels vom „KD/E-5“-Projekt und ich. Und herausgekommen ist etwas Großartiges. Also: In meinem Protest-Text gegen die Jury-Auswahl steht der auf die Finalisten „Rare Friends“ gemünzte Satzteil „eine Truppe von grauhaarigen Sitz-Veteranen“. Diesen Ausdruck hat der PSC-Veteran Manuel Normal aka David Haider aka KD/E-5 auf sich bezogen: Auch er war im Halbfinale gesessen; und der junge Mann hat wohl erste graue Haare an sich entdeckt. Die Performance ist mit voller Wucht direkt ins begeisterte Publikum gegangen, trotzdem war er keine Truppe, sondern ganz allein auf der Bühne. Dennoch wurde der Halbsatz im Camp der KTM-Kritiker mit großem Ärger aufgenommen - und hatte eine Reaktion zur Folge: Der Normale beschloss, den Final-Auftritt zu einem Riesen-Ramba-Zamba hochzujazzen, was sowohl musikalisch als auch performance-technisch (Juror Skrepek bemühte den Drahdiwaberl-Vergleich, zurecht) prächtig funktionierte und den Act zu Platz 2 führte. Was nicht passiert wäre, hätte David/Manuel den Text nicht auf sich bezogen.

Im Übrigen haben auch die gemeinten Veteranen reagiert: Die „Rare Friends“ sind im Finale ebenfalls gestanden und hatten dadurch musikalisch auch deutlich mehr Drive.

So, jetzt aber:
1) Ist der Dieter-Nuhr-Satz („Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Fresse halten“) überhaupt praktisch anwendbar?

Ich frage für einen Freund, der das gestern Abend getan hat, als ihm jemand anderer das Ergebnis einer Veranstaltung Alexander-die-Maus-mäßig darlegen wollte, bei der dieser andere gar nicht dabei war. Der Freund, für den ich frage, war nicht nur über die Tatsache, dass hier offensichtlich fremdgesplaint wurde, verärgert, sondern auch, weil das im Rahmen dieser Veranstaltung Tradition hat. Hier hat er (okay, ich) sich im Vorfeld schon darüber geärgert; und wurde dann in seiner vorauseilenden Ahnung bestätigt. Ich habe daraufhin den Nuhr-Satz bemüht, den man gut und gerne dann zitiert, wenn er abstrakt gebraucht wird oder sich an Abwesende richtet. So richtig in der Praxis ist er aber wohl unerprobt. Denn er ist nicht gut angekommen. Obwohl ihn wahrscheinlich alle Menschen jenseits einer Alternative-Facts-Schwäche unterschreiben würden. In echt sagt man’s dann aber nicht.

Ich hab’s - ohne mir groß was zu überlegen - getan. Auch weil ein Song davor das Thema „In die Fresse hauen oder nicht“ durchdiskutiert wurde, der Begriff also kontextuell schon herumlag.

Es war trotzdem keine gute Idee. Denn gerade im Rahmen einer lauten und goscherten Protest-Veranstaltung kommt es nicht so gut, wenn man jemandem die Gosch’n verbietet, und sei es inhaltlich zurecht, und sei es auf einen noch so konkreten Bereich (wie das Vorfinale, über das eben niemand sonst Bescheid wusste) bezogen.

Die Antwort ist also die, die Vicky Pollard immer gibt: yes, but no, but yes, but no.

2) Wie legitim ist Kritik an einer Frage, die ihre Haltung allzu deutlich vor sich her trägt? Und wie weit darf sie gehen?

Die Frage kam im Kontext eines Textes, der sich gegen die „white male hetero-patriarchy“ wendet; und sie kam kurz nach einer Empörung auslösenden Verteidigungsrede für das „Generische Maskulinum“ von Juror Skrepek.

Die Frage kam in zwei Teilen, das ist sie wörtlich: (1) „Ist es das Patriarchale, was des Problem ist momentan? I bin mir nicht so sicher...“ Nachfrage (2): „I frag mi nur, was sind wirklich die patriarchalen Strukturen, die uns jetzt niederdrücken.“

Ich will gar nicht damit anfangen, dass auch die dümmste Frage legitim ist, weil das oft deshalb nicht stimmt, weil deren Frager sich ja oft nur dumm stellen und mit diversen NLP-Tricks Unsicherheit und Konfusion auslösen wollen.

Diese Frage (vom Moderator Ostrowski an die Künstlerin Marie) ist ernst gemeint und will etwas über einen klassischen männlichen blinden Fleck wissen. Denn natürlich erkennen wir, die weißen Hetero-Männer, die Problemzonen und Strukturen oft nicht, nicht einmal böswillig, sondern weil ihre Auswirkungen uns nicht erreichen, wir sie gar nicht bemerken, weil sie uns selbstverständlich erscheinen. Wir sind umgekehrt von der Anstrengung seit einiger Zeit alles auch aus einer anderen Perspektive mitbetrachten zu müssen, ermüdet. Okay, das ist nur eine Ausrede, denn die andere Sichtweise mitzudenken, das nennt man auch Empathie, insofern ist das Teil des Pflicht-Programms eines zeitgemäßen Menschenlebens. Ich will’s wirklich wissen, sagt Ostrowski. Und trotzdem schwingt in der Frage eine so starke Suggestion mit, als würde man mit Klimawandel-Leugnern oder Chemtrail-Fans, also fanatischen Trotteln sprechen. Und das ist wohl ein Knackpunkt: die Tonalität. Der andere ist die Machtverteilung. Der das Publikum an die Hand nehmende Moderator, natürlich ein Mann im Kontext einer Veranstaltung mit einem verheerend schwachen Frauenanteil (deren Gründe bei Frage 1 mitaufgearbeitet wurden), schützt die Minderheit nicht, im Gegenteil, er verlangt sogar eine Rechtfertigung, und schickt seine Ungläubigkeit gleich mit. Das ist befremdlich bedrückend.

Mehr hat es/r nicht gebraucht. Danach fielen harte Worte; vor allem aus dem Publikum. Das so weit gehen darf, wie es glaubt. Aber auch von mir als Juror. Und ich war mir schon wenige Minuten später nicht mehr sicher, ob ich in meiner Rolle dasselbe darf wie das Publikum. Heute würde ich sagen: eher nicht. Ich darf zwar sagen: selber schuld, wenn du so depperte Fragen stellst! Ich darf aber nicht ein „Du Depp!“ nachschießen - wobei das jetzt ein Synonym-Bild/Wort ist, ich weiß nimmer, was ich gesagt habe.

Das konstruktive Funktionieren von Auseinandersetzung und Streit verläuft zwar nicht entlang der Bruchlinie der Beschimpfung, sondern entlang eines individuell diversen Grades von Sich-Getroffen-Fühlen - und deshalb helfen alle Regulative immer nur bedingt - ein besseres Rollenverständnis ist aber in jedem Fall hilfreich. Und da haben gestern Abend Moderation und Jury (und ich meine in erster Linie mich) ordentlich übertreten.

Die Antwort ist also: sehr legitim. Wie weit sie geht, hängt aber von der Rolle ab, die du im System hast.

3) Wie wichtig ist historische Genauigkeit im Umgang mit den aufkeimenden nationalistischen und antidemokratischen Tendenzen heute und dem Aufstieg der NSDAP damals?

Der Knackpunkt ist eine Textpassage im Beitrag der Ravensburger Gäste DLIA, in der es um Demos gegen den zunehmenden Rechtsruck, um das Credo des „Niemals wieder“ geht und die in „sie hat Angst, dass es wird wie in den Vierziger Jahren“ mündet.

Nun ist der Begriff „Vierziger Jahre“ in der deutschen und österreichischen Geschichte aus vielen Gründen kein stehender. Vor allem, weil dieses Jahrzehnt in zwei Teile (vor und nach 45) zerfällt. Das Jahrzehnt, in dem sich der Nationalsozialismus seinen (von nur wenigen beeinspruchten) Weg an die Macht und zur schlimmsten Terror&Mord-Diktatur gebahnt hat, waren die Dreißiger Jahre. Die in allen einschlägigen Dokus und Texten als das entscheidende Jahrzehnt benannt werden.

Die Kollegin Gerlinde Lang hat im Semifinale den Rapper DLIA nach der Seltsamkeit seiner Verwendung der Vierziger Jahre befragt, aber nur ein Schulterzucken und keine Antwort erhalten. Ich habe die Hoffnung geäußert, dass diese Unschärfe im Finale ausgebessert wird. Wurde sie nicht. Erst im Gespräch nach dem Song kamen zu den Vierzigern auch die Dreißiger dazu.

Ich habe dann meiner Irritation Ausdruck verliehen. Ja, in den Vierzigern lief die Nazi-Mordmaschine (in KZs, Ghettos, an den Fronten, in ärztlichen Einrichtungen etc.) auf Hochtouren. Die Grundlagen gelegt wurden davor. Die Nürnberger Gesetze etwa, die Basis für die Vernichtung der Juden, wurden 1935 beschlossen. Alles, auch der Angriffs-Krieg, hatte seinen Vorlauf in den Dreißigern.

Was tatsächlich nur in den Vierzigern passierte, war der hauptsächlich militärische Widerstand gegen das NS-Regime durch die Alliierten: Stalingrad, der D-Day, die Befreiung von Wien oder Berlin, von Auschwitz oder Mauthausen, die Kapitulation, die Selbstmorde im Führerbunker. Danach, ab 1945: der Wiederaufbau, die Entnazifizierung, die Nürnberger Prozesse, der Aufbau eines demokratischen Systems, freie Wahlen.

In diesem Licht sind die Vierziger Jahre also kein Jahrzehnt, vor dem man Angst haben muss: Sie symbolisieren in erster Linie den Widerstand und die Überwindung des Terrors. Für den Holocaust, die Shoah können diese Jahre allein nicht stehen, das greift ganz deutlich zu kurz. Auch deswegen existiert dieser Begriff außerhalb des Stücks „Feuer & Flamme“ nicht.

Er wirkt, als wäre er ein Code von z.B. den Identitären, die sich ja gerne antifaschistischer Symbolik bedienen und in Wirklichkeit augenzwinkernd das Gegenteil meinen, also die Vierziger deshalb als furchtbares Jahrzehnt empfinden, weil dort das Dritte Reich untergegangen ist.

Wenn es also darum geht, aktuelle Entwicklungen mit vergangenen zu vergleichen, dann sind die Vierziger Jahre dazu komplett ungeeignet - Entwicklungen in Richtung autoritäre Strukturen, menschenverachtender Rassismus, nationalistische Volkstümelei etc. laufen derzeit parallel zu den Geschehnissen der Zwanziger (siehe dazu auch: Babylon Berlin) und vor allem Dreißiger Jahre.

Hier eine neue und missbrauchbare Begrifflichkeit einzuziehen, ist dumm und auch gefährlich. Die Antwort ist also: Ja, extrem wichtig. Und die nicht gestellte Zusatzfrage, ob man in der Kritik daran weit gehen darf, stellt sich meiner Ansicht nach in diesem Zusammenhang nicht. Bei Missverständlichkeiten im Bezug auf das NS-Regime ist weder Zurückhaltung noch die jeweilige Rolle ein Parameter.

PS: Der deutsche Bundespräsident hat fast zeitgleich in einer Rede anhand eines anderen Beispiels noch einmal deppensicher erklärt, warum man die Vierziger nicht ohne die Dreißiger denken kann.

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