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Buch

Pudding aus Auberginen ist kein Seelenwärmer

Nobel geht die Welt zugrund, aber das hätte man sich doch anders vorgestellt: Philipp Röding lässt die Charaktere seines neuen Buchs „20XX“ nicht am Abgrund tanzen, vielmehr wird extravagant gespeist, bis sich die nächste Katastrophe im Weltgeschehen vor der eigenen Haustür anbahnt. Es herrscht Gleichgültigkeit.

Von Maria Motter

Abgeklärt und doch mit einem gewissen Witz erzählt Philipp Röding von vier Menschen zwischen dreißig und vierzig in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts. Ziemlich gleichgültig ihren Nächsten gegenüber sind Claudia, Julius, dessen Schwester Nora und deren Freund Karim. Bei Tristesse machen sie einfach weiter und wenn ein Störfall auftritt, seufzen sie höchstens kurz.

Claudias Bruder hat kürzlich ein Hakenkreuz an die Fassade ihres Elternhauses gesprayt. Der erwachsene Bub schreit bei Wutanfällen Naziparolen. Die behandelnde Psychiaterin vermutet unterdrückte Schuldgefühle, beim Arztgespräch schaut der Vater aus, „als würde er jetzt wahnsinnig gerne irgendetwas unterschreiben“.

Philipp Röding

Dina Lucia Weiss

Mit „Die Möglichkeit eines Gesprächs“ ist 2017 Philipp Rödings erstes Buch erschienen.

Anekdoten einer zivilisierten Gesellschaft

Leicht skurril, aber noch im Rahmen des Möglichen sind die Spitzen der in „20XX“ versammelten und zusammengefügten Anekdoten, aus denen sich die Handlung speist. Einen klassischen Handlungsbogen darf man sich nicht erwarten. Allzu experimentell ist das Buch allerdings auch nicht angelegt. Es ist zweigeteilt, einmal geht es um Claudia, dann um Julius, dessen Mutter in einem Gefängnis verstorben ist.

Die Romanfigur Claudia wäre gerne Autorin, ein Roman „wie ein All-you-can-eat-Buffet“ schwebt ihr vor. Diesem Wunschdenken kann sie auch unbeschwert mit einer Literaturagentin nachgehen, denn sie kommt aus einer Familie, in der schon Jugendliche aus einem Weißwein das Aroma weißer Pfirsiche erschmecken.

Durch das Buch ziehen sich lange Passagen, in denen nur aufgezählt wird, was aufgetischt wurde. Kostprobe: „Als nächstes servierte man ihnen eine Art Obstsalat aus Chrysanthemenblättern, australischer Fingerlimette, gemörserten Kräutern und Furikake-Gewürz, dazu einen libanesischen Weißwein aus dem Becaa Valley.“

Norbert Elias hat in seinem Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ großartig analysiert, was Philipp Röding hier mit diesen Erzählungen auch beschreibt: Die Figuren empfinden sich als zivilisiert, im Gegensatz zur Barbarei, die in den Weltnachrichten im Hintergrund flimmert. Affektzurückhaltung ist zentral. Zum Lebenstil gehört, extravagant zu speisen und geradezu übereifrig stets über die Gräueltaten im weltweiten Kriegsgeschehen informiert zu sein.

Das Buchcover zu Philipp Rödings Roman "20XX"

Dina Lucia Weiss

„20XX“ von Philipp Röding ist 2020 im Luftschacht Verlag erschienen

Serviervorschläge

Absurd und damit auch amüsant werden diese Darstellungen des gut situierten Bürgertums. So nimmt etwa Claudia Kontakt zu einem US-amerikanischen Marinesoldaten auf, man blättert wochenends Zeitschriften für vegane Möbel durch, ein One-Night-Stand hinterlässt Julius eine Videoprojektion mit einem abstürzenden Fallschirmspringer in Endlosschleife und in einer Fernsehsendung geht es um eine Schildkrötenart, die sich ausschließlich „in der Nähe psychiatrischer Kliniken ansiedelte“.

Das Milieu spiegelt sich dann auch in der Sprache. Stellenweise gar etepetete und bildungsbürgerlich hat alles seine genaue Bezeichnung. Da türmen sich zum Beispiel „ambossförmige Kumulonimbuswolken“ über dem Atlantik. Auch an popkulturgeschichtlichen Verweisen mangelt es nicht, von Anne Bancroft bis Tilda Swinton, von Dostojewski bis Christian Kracht könnte man mit den aufgezählten Werken Listen erstellen.

„20XX“ von Philipp Röding würde sich auch in Kochbuchsammlungen gut machen.

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