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„Guggile“ von Werner Kofler sammelt Material aus dem Nachkriegskärnten

Eine fragmentarische Cut-up-Reise zwischen Freiheitsdrang und Enge, Tabubruch und Schuldgefühl, Grant und Witz, damals ein Skandal, heute vergriffen, sollte „Guggile“ eine Pflichtlektüre für alle Kärntner und Kärntnerinnen sein.

Von Boris Jordan

Passend zu dem Bundesländer-Schwerpunkt diesen Sommer hat die FM4 Literaturchefin nachgefragt, welche Literatur aus oder über das jeweilige Bundesland dazu passt. Bei Kärnten ist das ja besonders schwierig, immerhin kommt der Großteil der international renommierten österreichischen Autor*innen von dort: Robert Musil, Ingeborg Bachmann, Christine Lavant, Peter Handke, Josef Winkler und so weiter. Geworden ist es dann ein recht unbekanntes, schon länger vergriffenes Kärnten-Buch: „Guggile“ von Werner Kofler, geschrieben als „Autobiografie eines Kärntners und aller Kärntner“ und eine Chronik der Kärntner Nachkriegszeit.

Schweinigeln im Land der Dichter*innen

Die beiden Untertitel von „Guggile“ fassen das Buch bereits sehr gut zusammen. „Vom Bravsein und vom Schweinigeln“ handelt dieser fragmentarische Coming-of-Age-Roman über den Kärntner Buben Werner, als Kind „Guggile“ gerufen, der in der Nachkriegszeit in Villach aufwächst. Er selbst ist altersgemäß von seiner eigenen Sexualität besessen, sein Penis, von der Oma zuerst als „puzzile“ und dann als „pimpale“ bezeichnet, ist allerlei Tabus ausgesetzt, vor allem dem der „selbstbefleckung“, der der Bub ausgiebig und mit schlechtem Gewissen frönt, was dem Vater nie passiert ist:

seinen erzählungen und ermahnungen (besonders während meiner pubertät) ist zu entnehmen, daß er vorehelichen verkehr nicht gehabt hat, auch der selbstbefleckung nie verfallen ist. gegen die gefahr nächtlicher pollutionen habe er einen pollutionsring aufgeboten: einen nachts über das glied zu stülpenden ring mit nach innen gerichteten spitzen, der ein steifwerden des gliedes verhindert. („wenn dir in der nacht etwas passiert, du weißt schon“, hat er zu mir gesagt, dann sei das ein zeichen von schwäche, das wiederum schwäche erzeuge: dagegen helfe ein pollutionsring...) ein fescher bursch sei er gewesen. mit frauen, „auf die schlechtigkeit … auf die schlechtigkeit …“ (a.kofler), habe er sich jedoch „nie eingelassen“, man müsse ja so aufpassen , die weiba seien ja so raffiniert: „10 minuten rittmeister, 18 johr zahlmeister“ („so is es meistens“).

Boris Jordan hält das Buch "Guggile"

Radio FM4 | Jenny Blochberger

„Guggile. Vom Bravsein und vom Schweinigeln. Eine Materialsammlung aus der Provinz“ von Werner Kofler ist erstmals 1975 in Berlin bei Wagenbach erschienen, es ist leider vergriffen, jedoch fallweise antiquarisch, auch in anderen Ausgaben, erhältlich.

Neben dem Interesse am eigenen Unbekannten hat der der heranwachsende Kärntner Ich-Erzähler einen detailreichen Blick auf all die, ursprünglich als selbstverständlich wahrgenommenen, widersprüchlichen Facetten des Kärntnerischen: vom „Anständigsein“, von der Unterwerfung unter die Autoritäten, vor allem jene der Kirche, vom Abt zum Katecheten bis zum „herrgott“, dem „himmeltata“ selbst, der „alles sieht“, aber auch unter die ökonomisch über der Kaufmannsfamilie stehende Villacher Gesellschaft, die „gnädige frau“, der „herr direktor“, die „hot-wolé“, die „feinen leute“ und die „bessergstellten“ – all dies gepaart mit einer Verachtungsmentalität für die gerne tabuisierten Bevölkerungsteile, die man zwar als „kundschaftn“ höflich behandeln sollte („’sgott! ’sgott!“) die aber sonst „nix taugen“.

judendorf, etwa, seebach, magdalen, die peripherie, eine „randwelt“ am rande der stadt und „am rande des verbrechens“, die „zigeina“, die „stiazla“, die „baraba“, das villacher lumpenproletariat: arm und keineswegs reinlich, „mit solch ane leit braucht ma ka mitleid hobn ...“ (a.k.).

Der zweite Untertitel bezieht sich auf den Stil des Buches. „Guggile“ ist „eine Materialsammlung aus der Provinz“. Der hektische und scheinbar strukturarme, staunend wiedergebende Erzählfluss des Ich-Erzähler-Kindes begräbt sich selber unter Wortspenden aus kindtypisch gleichwertig wahrgenommenen Fremdquellen. Wie in einem Gedicht der Beats vermischen sich Wortfetzen, Gebete, Eigennamen, Dialektausdrücke, Kraftausdrücke, Kalendersprüche, Gerüchte, Tabus und Befehle mit den Versprechungen der Werbung und des heiligen Konsums im väterlichen Geschäft.

bei der tante, im uterwelz-häuschen: „wischile mochn“, „eapa-saftile trinken“ und auf der tischplatte den „tamischn hansl“ kreisen lassen […] der nachbar kramer, „s’kramale“, und sein enkel, der rebitz- burli, später ein gelegentlicher spielkamerad … das geschäft der tante fini, „schleckareien“, lutscher zu 30 groschen, panulli, stollwerk, „bensdorf“; werbung: schmollpasta, villacher bier

Formal war „Guggile“ somit schon auf der Höhe der damaligen Zeit, die übliche Verzögerung von der Fifties- und Sixties-Avantgarde aus New York oder Paris eigerechnet. Der Autor hat sich wohl die absurd-assoziativen Liebesgeschichten von Raymond Queneau oder Boris Vian zum Vorbild genommen, die affirmative Aphoristik von Andy Warhol, den selbstzerfleischenden Witz der Beat-Poeten oder die soziale Schärfe von Charles Bukowski. Großes Vorbild für „Guggile“ scheint der Durchbruchsroman von Philipp Roth, „Portnoy’s Complaints“, zu sein, in dem die Besessenheit des Protagonisten von Sexualität und Tabubruch auf ähnlich parodistische Art verhandelt wird. Kofler hat die Roth’sche jüdische Autoritätsproblematik gegen eine Kärntner Post-Nazi-Enge eingetauscht, das ist so gut gelungen, so gut dergleichen überhaupt gelingen kann.

Wirklich so gegriffen, dass es ein solcher Nestbeschmutzungs-Skandal werden konnte, wird „Guggile“ wohl nur im Nachhall der Sechziger Jahre haben, wo die „dunkle Zeit“, über die man nicht spricht und die man somit zur Kontinuität des Wirtschaftswunders instrumentalisiert, für sensible Menschen noch in jeder beiläufigen Äußerung offen spürbar war.

Moderne Kärntner*innen erkennen sich in „Guggile“ nur auf den zweiten Blick, der allerdings aufzeigen müsste, dass Provinzialität und Selbsteinengung auch in Zeiten von Twitter, Woke oder Instagram durch den dünnen Lack der Weltgewandtheit oft genug immer noch nur notdürftig zugedeckt werden.

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