FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Gedenken an die Opfer

APA/HELMUT FOHRINGER

Kriminalsoziologin Veronika Hofinger im Gespräch über Deradikalisierungsarbeit

Wenige Tage nach dem Terrorattentat in Wien beginnt die politische Aufarbeitung. Ein Thema, das dabei im Fokus steht, ist die sogenannte Deradikalisierungsarbeit. FM4 hat mit der Kriminalsoziologin Veronika Hofinger vom Insitut für Rechts- und Kriminalsoziologie gesprochen, wie diese Arbeit funktioniert und welche Maßnahmen notwendig sind.

Von Philipp Emberger

Nicht nur wegen des neuerlichen Lockdowns ist im Wiener Bermudadreieck Stille eingekehrt. Die Gegend rund um den Schwedenplatz, die normalerweise von ausgelassenen Partygänger*innen bevölkert wird, ist gezeichnet von dem Terrorakt von vergangenem Montag. Um der Verstorbenen zu gedenken, legen die Wiener*innen Kerzen und Blumen nieder, ein Lichtermeer wurde veranstaltet.

Nach der dreitägigen Staatstrauer ist nun aber der politische Alltag zurückgekehrt. Die Beleuchtung der Hintergründe steht dabei ebenso auf der Tagesordnung wie die Aufklärung, wie es zu dieser grausamen Tat kommen konnte. Schuldige werden gesucht, Unfreundlichkeiten werden via Pressekonferenz ausgerichtet. Der Zustand des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung ist dabei ebenso Thema wie Ermittlungsfehler der Behörden.

Kriminalsoziologin Veronika Hofinger

privat

Veronika Hofinger ist Kriminalsoziologin und im Leitungsteam des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien.

Ein Thema, das ebenfalls im Fokus steht, ist die österreichische Deradikalisierungsarbeit, mit deren Hilfe verurteilte Extremist*innen wieder in die Gesellschaft integriert werden sollen. Wir haben mit der Kriminalsoziologin Veronika Hofinger vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie darüber gesprochen, wie Deradikalisierungsarbeit funktioniert, und ob die österreichischen Maßnahmen auf diesem Gebiet ausreichend sind.

Deradikalisierung als gesamtheitlicher Prozess

Bei den Verurteilten nach §278b StGB, also jenem Paragraphen im Strafgesetzbuch, der die Beteiligung an terroristischen Vereinigungen sanktioniert, handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe. Die Wege in die Radikalisierung sind sehr unterschiedlich, wie die Expertin Veronika Hofinger meint: „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wo sich jemand radikalisiert, wie sich jemand radikalisiert. Es gibt auch verschiedene Hintergründe, warum sich jemand radikalisiert. Das kann sowohl an den familiären Bedingungen liegen als auch in den Kindheitserfahrungen.“

Wichtig sei es laut Veronika Hofinger aber, dabei keine zu einfachen Gleichungen aufzustellen. Die Biografien von radikalisierten Personen weisen zwar Ähnlichkeiten auf, unterscheiden sich im Einzelfall aber auch stark voneinander. Diesem Umstand kommt vor allem in der Deradikalisierungsarbeit Bedeutung zu. Es muss dabei individuell auf die Hintergründe der jeweiligen Personen eingegangen werden.

Deradikalisierungsarbeit ist kein linearer Prozess, sondern benötigt einen gesamtheitlichen Ansatz und viele verschiedene Akteur*innen, die zusammenspielen müssen. Veronika Hofinger fasst im Gespräch mit FM4 die Deradikalisierungsarbeit zusammen: „Es kann nicht einer alleine diese Aufgabe übernehmen. Es braucht die Arbeit an der Ideologie, den Versuch, diese Wahrheit, die sich jemand zusammengezimmert hat, zu dekonstruieren und infrage zu stellen. Das macht vor allem der Verein DERAD in Österreich.“

Innenminister Karl Nehmmer

APA/HERBERT NEUBAUER

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) spricht von getäuschten Behörden.

Zwei weitere Bausteine in diesem Prozess sieht Veronika Hofinger in der sozialarbeiterischen Betreuung, wie sie in der Bewährungshilfe und im Gefängnis durch soziale Dienste oder die Jugendgerichtshilfe erfolgt. Einen letzten Baustein benennt die Kriminalsoziologin als die Familienarbeit: „Es ist auch gut, wenn mit der Familie gearbeitet wird, wenn die Familie Ansprechpersonen hat. Denn wenn sich jemand zum Negativen verändert, bemerkt es die Familie natürlich als Erstes.“ Eine Hilfe kann hier auch die Beratungsstelle Extremismus sein, an die sich betroffene Eltern wenden können.

Hat der Attentäter die Behörden getäuscht?

Eine Frage, die in den letzten Tagen aufgekommen ist, bezieht sich darauf, ob der Attentäter von Wien die Behörden und Betreuenden täuschen konnte. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) hat einen Tag nach dem Terroranschlag davon gesprochen, dass der Täter „das System perfide ausgenutzt“ und eine Deradikalisierung vorgespielt habe. Dieser Darstellung widerspricht das in Österreich für Deradikalisierung zuständige Netzwerk DERAD. Der Täter habe nie als deradikalisiert gegolten, heißt es dort.

Auf diesen Widerspruch angesprochen, meint die Kriminalsoziologin Veronika Hofinger: „Ich glaube nicht, dass jemand von den Betreuenden gesagt hat, er ist deradikalisiert. Es gibt keinen Stempel, durch den jemand als deradikalisiert gilt und dann wird er bedingt entlassen. Das ist ein langsamer Prozess, der vor allem auch nach der Haftentlassung fortgeführt werden muss, weil, je besser jemand integriert ist, je mehr Beziehung jemand hat, wenn jemand auch etwas zu verlieren hat, wenn jemand wieder bei seiner Familie ist, dann hilft das der Deradikalisierung.“

Allerdings sei es möglich, „einzelne Betreuer und Betreuerinnen zu täuschen“, heißt es von der Expertin weiter und sie liefert auch gleich einen Lösungsansatz: „Ich glaube, dass man dem nur entgegenwirken kann, wenn möglichst viele auf einen Fall schauen, wenn die Informationen zusammenlaufen.“ Ein gutes Beispiel für diese Notwendigkeit ist der aktuelle Fall in Wien. Berichte über einen versuchten Munitionskauf in der Slowakei wurden nur zögernd weitergegeben. Ein Fehler, den mittlerweile auch Innenminister Nehammer eingeräumt hat.

Das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie ist eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung und forscht vor allem in den Bereichen Sicherheit, Kriminal, Gewalt, Extremismus und Soziale Arbeit.

Lösungsvorschlag Fallkonferenzen

Einen konkreten Vorschlag lieferten Veronika Hofinger und Thomas Schmidinger in ihrer Studie „Deradikalisierung im Gefängnis“. In sogenannten Fallkonferenzen sollen die Informationen von allen am Deradikalisierungsprozess beteiligten Akteur*innen abgeglichen werden. Wichtig ist aber, wie Veronika Hofinger im Interview betont, dass diese Fallkonferenzen in einem rechtlich gesicherten Rahmen stattfinden. Denn dabei geht es auch um sensible Informationen, und die Behörden brauchen eine rechtliche Basis, um diese miteinander teilen zu können.

Mittlerweile gibt es zwar auch ein international verwendetes Instrument, mit dessen Hilfe Risikofaktoren eingeschätzt und bewertet werden können, dennoch scheint der Informationsfluss nach wie vor nicht optimal zu laufen, wie der aktuelle Fall deutlich zeigt.

Justizministerin Alma Zadic hat diese Woche in der ZIB2 Maßnahmen angekündigt, die die Deradikalisierungsarbeit verbessern sollen. Kriminalsoziologin Veronika Hofinger begrüßt das: „Es braucht die Deradikalisierungsarbeit, es braucht die sozialarbeiterische Betreuung durch die Bewährungshilfe, es braucht die Sozialarbeit in der Haft. Das Problem ist, dass es zu wenig Ressourcen gibt. Unsere Haftanstalten sind überfüllt, dort fehlen Ressourcen. Wenn man wo ansetzen will, müsste man den Strafvollzug besser ausstatten. Man müsste in den Verein DERAD investieren und ihnen mehr Mittel geben, aber auch eine gewisse Transparenz und Professionalisierung einfordern. Es kommt dieses Ausstiegsprogramm, das muss man sich dann anschauen, für wen das geeignet ist und wer da freiwillig mitmacht. Wenn man die Dinge, die schon vorhanden sind, weiter ausbaut, dann glaube ich, dass man in Österreich gute Deradikalisierungsarbeit machen kann, und es ist ja in vielen Fällen auch schon gute Deradikalisierungsarbeit geleistet worden. Dass man eine Garantie hat, dass alle, die ein Programm durchlaufen, danach nicht mehr rückfällig bzw. keine Attentäter werden, so ein Programm gibt es leider nicht.“

Das angesprochene Programm, das vom Verein „NEUSTART“ angeboten werden wird, hat das Ziel, die Gewaltbereitschaft der Betreuten zu reduzieren und ihnen den Wiedereintritt in die Gesellschaft zu ermöglichen. Einmal mehr zeigt sich, dass Deradikalisierung ein komplexer Prozess ist und die Debatte darüber noch weitergehen wird.

Aktuell: