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Bilder aus ‘Mangrove' dem 1. Teil der von Steve McQueen inszenierten BBC-Serie ‘Small Axe’

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robert rotifer

Klokabinen für Johnsons Waterloo

Eine Party-Reise nach Jamaica für den Quiz-Gewinner und ein Deportationsflug mitten in der Pandemie. Steve McQueens großartige Fernsehserie „Small Axe“ über den Kampf der afrokaribischen Community gegen britischen Rassismus. Und ein Buffo-Churchill, der offenbar nicht begreift, was er anstellt. Auch in Großbritannien neigt sich 2020 dem Ende zu.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Leome hat 76.000 Pfund gewonnen.

Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte, aber irgendwie sind wir gestern beim Fernsehen bei dieser BBC Game Show namens „The Wheel“ hängengeblieben. Einer von drei Kandidaten, schätzungsweise Mitte zwanzig, hieß Leome. Auf die Frage, was er mit dem Geld anfangen würde, falls er den großen Preis gewinnt, sagte er, seine Familie komme ursprünglich aus Jamaica, dort würde er mit Freund*innen und Verwandten hinfliegen und eine große Party geben.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Schwierig zu erklären, wie die Show funktioniert, es war die erste Folge, moderiert vom Komiker Michael McIntyre, einer Art Middle-Class-Middle-England-Middle-Everything-Onkel mit Papa-Bauch und wippendem Mittelscheitel, der in normalen Zeiten vor Zehntausenden witzelt, in diesem Fall aber vor einer wild blinkenden bunten Kulisse, die in Verbindung mit zugespielten Lach-, Jubel- und Oje!-Sound-Effekten als hysterisches Ersatzpublikum diente.

Professionell gutgelaunt stellte sich McIntyre der Aufgabe, gleichzeitig Aufregung zu vermitteln und die Regeln des Spiels zu erklären. Was wie gesagt schwierig ist, aber das Spiel heißt wohl „The Wheel“, da die zur Beratung der Quiz-Kandidat*innen eingeladenen Expert*innen – unter ihnen Neunziger-Prominenz wie Mel B und Jason Donovan – sozusagen als menschliche Roulettezahlen auf kreisförmig arrangierten, leuchtenden, retrofuturistischen Fauteuils sitzen, die sich im Karussell rund um den/die Kandidat*in drehen, bis das Rad zur Ruhe kommt, und der Pfeil auf eine*n von ihnen zeigt, und... Ich hab ja gesagt, es ist schwierig zu erklären.

Natürlich hieß eines der Spezialgebiete, zu denen McIntyre Fragen stellte, „World War Two“, wir sind schließlich in Großbritannien im Jahr 2020. Weder der beratende Promi noch die Kandidatin wussten, welchen der vier Kampfschauplätze Churchill einst in seiner motivierenden Radio-Rede „We shall fight them...“ NICHT genannt hatte: „on the sea“, „in the streets“, „on the landing grounds“ oder „in the skies“.

Als von der endlosen britischen Kriegszelebrierung traumatisierter Zugewanderter wusste ich das natürlich: Falsch war „in the skies“ (Kandidatin und Experte sagten „on the landing grounds“, dabei ging’s doch darum, was passiert, wenn die Deutschen LANDEN – logisch!)

Gut jedenfalls, dass die Kandidatin sich irrte, denn das gab dem an einer früheren Frage (ab wie viel Monaten Dating sagen Brit*innen durchschnittlich „I love you“?) gescheiterten Leome seine zweite Chance, die er sich nicht entgehen ließ. Er gewann also seine 76.000 Pfund und wird nun mit Verwandten und Befreundeten nach Jamaica fliegen.

Sein Triumph versprühte dringend benötigte Feel-Good-Atmosphäre in den Wohnzimmern der bis zum Ende des derzeitigen, zweiten Lockdown am 2. Dezember an ihre Couch gefesselten englischen Haushalte.

Apropos 2. Dezember. Da geht noch ein ganz anderer Flug nach Jamaica als der von Leome.

An Bord werden 50 in Großbritannien lebende Menschen mit Geburtsort oder Familienhintergrund in der Karibik sein. Aber sie fliegen nicht zu einer Party, sondern in eine mehr als ungewisse Zukunft, denn sie werden abgeschoben, auf Weisung des britischen Home Office (wie schon oft erklärt: „Home Office“ = Innenministerium, aber sie verwenden dasselbe Wort zur allseitigen Verwirrung mittlerweile hier eh auch schon so wie ihr Deutschsprachigen als Synonym für „Laptop auf dem Küchentisch“).

Und die BBC berichtet ihrem Publikum keinen Piep davon.

Dabei gäbe es zu diesem Thema einen alle relevanten Informationen enthaltenden, offenen Brief an die Luftlinien und Reiseunternehmen, die für die britische Regierung solche Deportationsflüge erledigen.

Darin steht unter anderem, dass nicht nur die solchen Deportationen zugrunde liegende, einst von Theresa May als Innenministerin institutionalisierte Politik des „hostile environment“ laut einem Bericht der britischen Equality and Human Rights Commission als eindeutig diskriminierend gegenüber schwarzen Menschen befunden wurde und bereits fünf der im vergangenen Jahr auf solche Weise deportierten Männer in Jamaica getötet wurden. (Wir erinnern uns an den Windrush-Skandal von 2018, gefolgt von einem Entschädigungsprogramm, das dessen afrokaribischen Opfern so unüberwindbare bürokratische Hürden stellt, dass sich die höchste schwarze Beamtin des Home Office Alexandra Ankrah unter Protest gegen den „systematischen Rassismus“ in ihrem Ministerium zum Rücktritt veranlasst sah. Die Regierung hatte sich im März unter der bitter ironischen Überschrift Lessons Learned einen Bericht zum selben Thema erstellen lassen, den die derzeitige Innenministerin Patel zwar akzeptierte. Die Deportationen gehen ungehindert dessen weiter.)

Unter den Unterzeichner*innen des neuen offenen Briefs findet sich neben so prominenten Namen aus Kultur, Entertainment, Medien und Wissenschaft wie Naomi Campbell, Bernardine Evaristo, Gary Younge, Ash Sarkar, Reni Eddo-Lodge oder Paul Gilroy übrigens auch eine gewisse Mangrove Community Association.

Dieser Verein ist benannt nach einem 1968 eröffneten karibischen Restaurant im Londoner Stadtteil Notting Hill, das bis zu seiner Schließung 1992 mehreren, oft brutalen Übergriffen seitens der örtlichen Polizei ausgesetzt war. Erst vor zwei Wochen gab das Mangrove den historischen Hintergrund für den ersten von fünf Filmen der TV-Serie Small Axe des britischen Regisseurs Steve McQueen her.

Bilder aus ‘Mangrove' dem 1. Teil der von Steve McQueen inszenierten BBC-Serie ‘Small Axe’

BBC

Bilder aus „Mangrove“, dem 1. Teil der von Steve McQueen inszenierten BBC-Serie „Small Axe“

Der dritte von McQueens (laut Promo) „Liebesbriefen an den schwarzen Widerstand und den Triumph in Londons westindischer (=karibischer, Anm.) Community“ läuft heute (Sonntag) Abend um neun. Ich kann’s kaum erwarten, denn diese „lebhaften Geschichten schwer erkämpfter Siege im Angesicht des Rassismus“ gehören ganz ehrlich und ernsthaft zum Besten, was die BBC seit Ewigkeiten hervorgebracht hat.

Ja, auch sowas läuft zur Primetime auf BBC One.

Und zur Abwechslung hab ich einmal keine schlaue Erklärung zu dem offensichtlichen Widerspruch parat, dass die Geschichte des „Mangrove“-Restaurants der BBC einen aufwendigen Zweistundenfilm, ein heutiges Anliegen derselben Community in den Nachrichten dagegen nicht die geringste Erwähnung wert ist.

Liegt es vielleicht daran, dass historische Dramen sich mit dem gängigen Selbstbetrug des bereits überwundenen Rassismus vereinen lassen, ja solche historisch antirassistischen Gesten gar zur Ablenkung vom Rassismus der Gegenwart dienen?

Hat es eher was damit zu tun, dass die Drama-Abteilung der BBC im Vergleich zur News-Redaktion weniger stark unter Beobachtung der Regierung und dem damit einhergehenden Hang zum vorauseilenden Gehorsam steht?

Bilder aus ‘Mangrove' dem 1. Teil der von Steve McQueen inszenierten BBC-Serie ‘Small Axe’

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Oder schlicht damit, dass es neben dem alles beherrschenden Monopolthema, dem C-Wort, immer noch kaum mehr Platz für andere Schlagzeilen zu geben scheint?

Auch nicht ganz unverständlich, schließlich stehen wir gerade bei rund 58.000 Todesfällen seit Beginn der Pandemie (ca. 500-600 pro Tag), und die Expert*innen sehen bereits eine dritte Welle kommen, bevor der zweite Lockdown überhaupt noch geendet hat. Durchschnittlich sind 95 Prozent der Intensivbetten in britischen Krankenhäusern belegt – und ja, „durchschnittlich“ heißt, dass es in manchen schon mehr als hundert Prozent sind, was in der Praxis bedeutet, dass Intensivpatient*innen mittlerweile zwischen verschiedenen Krankenhäusern herumgeschickt werden.

Viel weniger verständlich dagegen, dass es selbst das vormalige Hauptthema, das B-Wort, kaum mehr in die Nachrichten schafft. Wenig mehr als vier Wochen vor der unausweichlichen Deadline zum Jahreswechsel steckt das Land – von der Regierung über die Medien bis zur Opposition – immer noch tief in der Verleugnungsphase, ja vor ein paar Tagen brachte es Schatzkanzler Rishi Sunak sogar fertig, im Unterhaus 25 Minuten über den schwersten Wirtschaftseinbruch seit dem großen Frost von 1709 zu referieren, ohne dabei ein einziges Mal das Wort „Brexit“ zu erwähnen.

Und das obwohl ein immer dringlicher drohendes No-Deal-Szenario nach Prognose der London School of Economics die ökonomischen Auswirkungen der Corona-Krise noch in den Schatten stellen und selbst ein Freihandelsabkommen mit der EU, wie Johnson es anstrebt und mit einem Mindestmaß an Kompromissfähigkeit jederzeit haben könnte, noch zu einem Wachstumsverlust von 4,9 Prozent führen würde.

In Kent auf der Autobahn nach Folkestone und Dover kam es vergangene Woche übrigens schon zu einem 8 Kilometer langen LKW-Stau bis vor die Eurotunnel-Einfahrt und den Fährenhafen. Wegen eines kleinen Checks der neuen Post-Brexit-Grenzkontroll-Software drüben in Calais auf der französischen Seite des Kanals.

Die Software für die britischen Grenzkontrollen ist hingegen noch nicht fertig, aber die Regierung hat bereits Hunderte Klokabinen für im Stau festsitzende LKW-Fahrer*innen bestellt. Verkehrszeichen mit der Aufschrift „Kent – The Garden of England“ wurden von Aktivist*innen mit “The Toilet of England“ überklebt. Lustig ist das nicht besonders.

Für welche Form von Desaster Johnson sich nun entscheidet, scheint – ganz genau wie bei seiner Entscheidung für Leave oder Remain im Februar 2016 – einzig davon abzuhängen, welches der beiden Szenarios für ihn persönlich politisch nützlicher oder zumindest weniger schädlich sein könnte. Optiert er für einen Deal, werden die Brexit-Ultras ihn für weich erklären. Dafür kann er dann die Opposition nötigen, ihn bei der Ratifizierung des Deals im Unterhaus zu unterstützen, was Labour wiederum zu Kompliz*innen des zu erwartenden Desasters machen würde. Andererseits hat Johnson die Brexit-Ultras, die natürlich allesamt Lockdown-Gegner*innen sind (na, was denn sonst?), mit seinen Covid-Maßnahmen schon so schlimm verärgert, dass er es sich mit einem Einlenken in den Verhandlungen mit der EU nicht noch weiter verscherzen will. Der verblödete Flügel der Tory-Rechten ist schließlich seine treueste Hausmacht.

Solcherlei Gedanken lassen den Premierminister also bis zur letzten Minute zaudern.

Die Fähigkeit, die menschlichen Konsequenzen seines Handelns zu begreifen, ist ihm offenbar nicht gegeben: eine willkürliche Störung lebensnotwendiger Handelswege nicht nur seines eigenen Landes, sondern auch zwischen Irland und dem europäischen Festland, noch dazu mitten in einer Pandemie... Hauptsache, auf der Verpackung des von AstraZeneca hergestellten Coronavirus-Impfstoffs ist auch ein Union Jack drauf.

Heute hat der Buffo-Churchill via Boulevard-Presse einen motivierenden Text zum Thema „Durchhalten bis zum Impfstoff“ abgeliefert: „Wir sind so nahe dran, aus unserer Gefangenschaft auszubrechen. Wir können die sonnendurchfluteten Weiden des Hochlands schon vor uns sehen, aber wenn wir jetzt versuchen, über den Zaun zu springen, werden wir uns einfach im letzten Stacheldraht verhängen, mit desaströsen Konsequenzen für unser Gesundheitssystem [...] In unseren Herzen wissen wir, dass wir unweigerlich gewinnen werden, denn die Armeen der Wissenschaft kommen uns zu Hilfe, sie stärken unsere Moral mit ihrer ins Horn blasenden Begeisterung, so wie einst Wellingtons preußische Verbündete, die am Nachmittag von Waterloo durch die Wälder kamen.“

Ehrlich keine Parodie.

Falls es in Großbritannien in, sagen wir, zwanzig Jahren noch die BBC und genug Strom für die Abhaltung von Game Shows geben sollte, können sie dann ja eine Frage zur großen Covid/Brexit-Krise 2020/21 stellen.

Was erwähnte Boris Johnson in seinem berühmten Durchhalte-Appell vom 29. November 2020 nicht: Waterloo, Wellington, sonnendurchflutete Weiden oder Klokabinen?

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