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Pier in Folkestone

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Ein großer Schritt für Großbritannien...

Der schwerste Corona-Ausbruch seit April, abgeschnitten vom Rest der Welt, und uns geht’s immer noch zu gut. Da hilft nur die Wiedereinführung der Todesstrafe. Danke, Großbritannien, und Prosit!

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ich bin ja kein Mensch, der von Natur aus an Optimismus leidet. Davon zeugen die in meinem letzten Blog erwähnten Suppendosen in der Garage.

Aber selbst ich hatte nicht damit gerechnet, für welch bescheidene Freuden ich mich am vorvorletzten Tag dieses zermürbenden Jahres so dankbar fühlen würde.

Da stand ich nämlich in jenem als Postamt fungierenden Kleinsupermarkt in meiner Gegend, der immer so angenehm nach Räucherstäbchen riecht (nicht das billige Zeug, von dem man Kopfweh kriegt), mit einem Stapel Plattenkartons in der Hand.

Und das wohlige Gefühl der Dankbarkeit überkam mich, weil die als Postbeamtin fungierende Kleinsupermarktbetreiberin mir gerade versichert hatte, dass ich die Bandcamp-Bestellungen (hab neulich wieder zum globalen Vinyl-Berg beigetragen) tatsächlich „nach Europa“ verschicken durfte. Noch dazu ohne Zollerklärung.

„Sind sie sich absolut sicher?“, fragte ich. Schließlich war ich bei einem anderen Post Office bereits abgeblitzt und hatte auf Twitter von ähnlichen Erlebnissen gelesen.

Es gibt so Gradmesser des Lebens in einer zivilisierten Gesellschaft, und die Möglichkeit, Post ins Ausland zu senden, gehört für mich rein intuitiv dazu. Altmodisch.

Allerdings, der Kanaltunnel mag sich nach der Totalsperre vor Weihnachten wieder geöffnet haben, aber die Royal Mail zeigt keine Anstalten, den eingestellten Postverkehr mit dem Festland wieder aufzunehmen. Schließlich weiß immer noch niemand so genau, was uns ab Jahreswechsel an Zettelwerk und Gebühren erwartet (auch bei Zollfreiheit wird Bearbeitung verrechnet, aber wie viel? Und wie halten wir’s künftig mit der Mehrwertsteuer? Das war’s dann mit den britischen Discogs-Connections...).

Meine von all dem erstaunlich unbeeindruckte Postmeisterin schnalzte eine Frankierung nach der anderen auf meine Kartons, so, als wären die letzten viereinhalb Jahre nicht passiert, und machte mich damit sehr glücklich.

Ich hoffe nur, sie wird dafür nicht draufzahlen und dass die Platten in den verbliebenen zwei Tagen Binnenmarkt nicht beim Zoll hängengeblieben sind.

Ich komme ja grundsätzlich gut aus mit meiner Postmeisterin. Andere weniger, da solltet ihr einmal die Ein-Stern-Google-Reviews lesen („Unbelievably rude woman behind the counter, take your business elsewhere“, „Never before have I left any business having been made to feel so small and stupid“, „Very rude and aggressive lady, felt very uncomfortable being served by her“).

Wundert mich auch wenig, dass die Postmeisterin manchmal temporär der Charme verlässt, denn während sie meine Kartons einsackte, unterhielt eine Dame in der Schlange hinter mir den Rest des Ladens mit einem extemporierten Monolog über die kontinentalen LKW-Fahrer*innen, die auf ihren britischen Parkplätzen britische Weihnachten verbringen durften und dann erst recht was drüber zu maulen hatten.

Undankbar!

Trotzdem auch arme Teufel irgendwie, meinte sie, denn schuld sind ja die Franzosen, die die Fernfahrer*innen nicht ohne Test einreisen hatten lassen. 60, 70, vielleicht 80 von ihnen seien positiv getestet worden, wusste unsere Frontberichterstatterin, „aber in den Nachrichten verraten sie nie, wo sie die dann alle hinbringen“. Sicher nicht aufs Festland, wo sie hingehören!

Zeitungsannonce der britischen Regierung "Check, Change, Go"

Robert Rotifer

Definition von Chuzpe

Mit etwas Glück haben sich die restlichen „freigetesteten“ 10.000 Fernfahrer*innen bis zum Jahreswechsel übern Kanal verzogen. Denn dann kommt der nächste vorhergesagte Notfall mit Inkrafttreten des triumphalen Brexit-Deals, von dem ihr schon anderswo gelesen habt.

Nach viereinhalb Jahren Vorlauf hat das Unterhaus ihn gestern durchgewinkt, mit 521 Ja-Stimmen, ein paar Enthaltungen und nur 73 Gegenstimmen, also – wie ihr bereits richtig nachgezählt habt – mit reichlich Unterstützung der Opposition. Der letztes Jahr noch für ein zweites Referendum werbende Labour-Chef Keir Starmer hatte seine Abgeordneten per Club-Zwang („three-line whip“) zur Patriot*innenpflicht des Ja-Sagens verdonnert.

Angeblich, weil es zu verhindern galt, dass konservative Ultra-Brexiteers noch über die Hintertür einen No-Deal-Ausgang provozieren. Im echten Leben aber eher, weil Starmer nichts so sehr fürchtet wie den latent über jedem Labour-Chef schwebenden Vorwurf des Landesverrats.

Da stimmt er lieber gleich mit dem Buffo-Churchill, der vorgestern noch beruhigte, die im Deal verankerte Verpflichtung zur Bewahrung derzeitiger Umwelt- und Arbeitsrecht-Standards bedeute bloß, dass das UK seine Kinder „nicht sofort“ wie zu Charles Dickens’ Zeiten zum Schornsteinfegen „in die Kamine schicken“ oder „rohes Abwasser über all seine Strände gießen“ würde.

Nicht sofort.

Was immer in Zukunft tatsächlich passieren wird, Labour wird nicht behaupten können, dagegen gewesen zu sein.

Schwimmendes rosa Haus und Boote im Meer vor Folkestone

Robert Rotifer

Neulich im Hafen von Folkestone treibt ein rosa Haus verloren im Wasser und repräsentiert die Sozialdemokratie.

Die alte „Strategie“, es der Presse recht(s) zu machen, hat sich also wieder einmal durchgesetzt. Ja gestern erklärte Starmer sogar dem liberalen Guardian exklusiv, dass seine Partei „keine größeren Änderungen im neuen Verhältnis Britanniens zu Europa“ anstreben werde.

Jene über 200.000 Musiker*innen und deren Sympathisant*innen, die in den letzten Tagen eine hoffnungslos verspätete Petition für eine visumsfreie Arbeitserlaubnis am Kontinent unterschrieben haben, müssen sich also paradoxerweise ganz klein machen, wenn sie wollen, dass Starmer sich für sie einsetzt.

Von meinen Erfahrungen als EU-Bürger in diesem Land hier würde ich ja einmal nicht damit rechnen. Da hab ich den hiesigen Brit*innen schon viel an Ernüchterung voraus.

Mehr über die nun absolut verheerenden Aussichten der britischen Musiker*innen dann hier in einer eigenen Kolumne nächste Woche, einstweilen fühlt sich selbst diese, immerhin den Status Großbritanniens als Pop-Exportland bedrohende Sache zugegebenermaßen wie ein Luxusproblem an.

Denn während Boris Johnson gestern vor einem kleinen Fahnenwald aus vier Union Jacks sein Autogramm in eine symbolisch ungelesene Kopie des 1.000-Seiten-Schmökers Brexit-Deal kritzelte...

Während er im Gegensatz zu Marie Antoinette vor dem Hintergrund eines wachsenden Hungerproblems im Königreich TATSÄCHLICH WÖRTLICH vom „Kuchen“ sprach, den Großbritannien nun gleichzeitig „behalten und essen“ kann...

Während er zufolge den zusehends den nordkoreanischen Stil pflegenden BBC-Nachrichten das Land aufrief, an diesem Tag der Unabhängigkeit eine sich neu eröffnende Chance zu ergreifen („Seize the opportunity!“)...

Pier in Folkestone

Robert Rotifer

„Seize the opportunity!“ - Sprungbrett in eine goldene Zukunft

... verzeichnete das Vereinigte Königreich allein gestern 981 Covid-Tote und 50.023 Neuinfektionen, so viele wie seit den schlimmsten Tagen des vergangenen April schon nicht mehr.

Unter den Einweisungen in die aus allen Nähten platzenden Krankenhäuser sind, wie man liest, mittlerweile ganze Familien, Jung und Alt. Auch die Rettungswägen stehen schon vor den Spitalseinfahrten Schlange.

Und falls nun wer dagegenhält, naja, dafür haben die Brit*innen immerhin schon zwei Impfstoffe zugelassen:

Nachdem bisher 500.000 Menschen die erste von zwei Impfungen erhalten haben, hat der National Health Service nun beschlossen, die zweite Dosis nicht wie vorgesehen innerhalb von 21 Tagen, sondern erst nach bis zu 12 Wochen zu verabreichen, um in der Zwischenzeit möglichst viele Erstimpfungen unterzubringen. Gegen den Rat von BioNtech/Pfizer und AstraZeneca, die nicht garantieren können, dass die erste Dosis nach 12 Wochen noch wirksam ist.

Für Sozialministerin Thérèse Coffey war das jedenfalls genau der richtige Moment, um in der Daily Mail exklusiv zu droppen, dass neue Zuwander*innen aus der EU künftig, so wie alle anderen, erst fünf Jahre ins Sozialsystem einzahlen werden müssen, bevor sie sich ein Recht auf Leistungen des Wohlfahrtsstaats erwerben.

Für euch als Service-Leistung übersetzt:

Nachdem jeder Job, den ihr hier annehmt, mit dem nächsten Lockdown verschwinden könnte, würde ich vorerst eher nicht nach Großbritannien ziehen.

Ich bin so alt, ich kann mich an Zeiten erinnern, da hätte diese Botschaft noch tausend anglophile Herzen gebrochen.

Man kann sich das gar nicht mehr vorstellen.

Aber ihr braucht eh nicht herzukommen, denn ich als treuer Content Provider für euch Doomscrollers werde natürlich auch im kommenden Jahr hier die Stellung halten, hellwach mit Blueface um drei, vier in der Früh.

Ja, als ich zwischendurch feiertags in Gefahr geriet, sorgenbefreit zu entschlummern, weckte mich die Nachricht, dass Innenministerin Priti Patel nun auch noch die Wiedereinführung der Todesstrafe vorbereitet.

Und schon ging der Atem wieder schneller.

Aber hey, mustn’t grumble! Wir hier in England holen uns unsere kleinen Freuden, wo wir sie zwischen den Hiobsbotschaften finden.

Vorgestern erschien tatsächlich was Herzerwärmendes auf meiner Timeline, im Twitter-Feed von Nick Caves Loop-Station-Meister und Violinist Warren Ellis: Ein Spaziergangs-Selfie mit Queen Marianne (Faithfull) samt der Enthüllung, dass die beiden gerade unter blassblauem Himmel (London? Paris?) ein Album „romantischer Poesie für 2021" ausheckten.

Jawohl, 2020, Marianne, die - wollen wir’s nicht vergessen - im Frühling wochenlang coronakrank auf der Intensivstation lag, hat dich überlebt.

Das macht immerhin Hoffnung.

Noch dazu, wo auch Ray und Dave Davies sich lebendig und vereint zeigen. Zu den Weihnachtsfeiertagen wurden die Gebrüder Kink beim gemeinsamen Bier-Spaziergang durch Nordlondon fotografiert und in der Presse prompt als „dilapidated (baufällige) followers of fashion“ bespöttelt. Originell.

„Mein verdammter Mantel sieht gut aus, hat tolle Schultern und war teuer“, tweetete Dave Davies zur Antwort, „Mein Bruder hat ihn mir letzte Weihnachten gekauft, und wir tranken glutenfreies Bier. Warum können uns die Paparazzi nicht fünf Minuten allein lassen, damit wir uns in Ruhe aussprechen und ein paar Biere trinken können?“

Eine sehr berechtigte Frage.
Ich werde heute Nacht mit glutenfreiem Schaumwein auf Dave anstoßen. Und auf Ray und auf Marianne und vor allem natürlich auf euch.

Auf dass wir alle nächstes Jahr irgendwann in eine Impfnadel rennen.
Zweimal, wenn’s geht.

Hausschild "Emporium, Temporar Sign"

Robert Rotifer

Jemand kann nicht „temporary“ schreiben, haha, ist der Witz hier. Nein, ist er nicht.

PS, eine Pointe geht sich noch aus heuer: Wie Reuters meldet, hat Stanley Johnson, Vater von Boris, um französische Doppelstaatsbürgerschaft angesucht. Für seinesgleichen ist des Sohnes Kuchenesser-Deal offenbar nicht gut genug.

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