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Paulus Hochgatterer im Interview: Was jetzt wichtig ist

Was Self Care mit dem Alltag an einer Kinder- und Jugendpsychiatrie zu tun hat und was man sich jetzt unbedingt gönnen sollte, sagt Paulus Hochgatterer im FM4-Interview. Der Schriftsteller und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigt sich seit vielen Jahren damit, wie es jungen und sehr jungen Menschen geht.

Von Maria Motter

Wir widmen uns diese Woche unter dem Motto „Where is my mind?“ auf FM4 dem psychischen Wohlbefinden. Einer, der sich damit seit vielen Jahren beschäftigt, ist der Schriftsteller und Facharzt Paulus Hochgatterer.

Als Kinder- und Jugendpsychiater leitet er diese Fachabteilung am Universitätsklinikum Tulln und hat mit jungen, sogar ganz jungen Menschen zu tun. Seine Patient*innen sind zwischen Säuglingsalter und Volljährigkeit. Denn an seine Abteilung kommen auch junge Mütter mit ihren Babys, die in psychosozial besonders belasteten Umständen aufwachsen.

Jetzt, in Zeiten von Corona und Lockdowns, sind „Mental Health“ und vor allem auch „Self Care“ Begriffe, die einem oft unterkommen, auch und gerade auf Social Media Plattformen. Wie viel diese Begriffe eigentlich mit psychiatrischer Realität zu tun haben, erklärt Paulus Hochgatterer im FM4 Interview.

Paulus Hochgatterer steht im Freien und hat die Arme vor der Brust verschränkt

Heribert Corn

Die Perspektive der Kinder vermittelt Paulus Hochgatterer ganz klar und großartig in seinen Büchern. In „Caretta, Caretta“ ist man unterwegs mit dem 15-jährigen Dominik, der am Strich Geld verdient und dem ein Freier eine Reise verspricht. „Caretta, Caretta“ ist inzwischen ein österreichischer Klassiker. Zuletzt waren in „Fliege fort, fliege fort“ die Figuren aus früheren Romanen, ein Psychiater und ein Kommissar, auf der Suche nach einem verschwundenen Kind.

Paulus Hochgatterer: Auf der einen Seite gehören diese Begriffe Mental Health und Self Care ganz zentral zur Psychiatrie und zur Kinder- und Jugendpsychiatrie ganz speziell. Wenn man mit Realität auch Versorgungsrealität meint, dann gibt es dort und da, um es vorsichtig auszudrücken, noch Distanzen, die man überwinden sollte.

FM4: Das heißt konkret: Es ist noch immer so, dass zu wenige Plätze in Österreich zur Verfügung stehen für Kinder und für Jugendliche, die psychiatrische Hilfe benötigen? Ambulant und auch stationär?

Momentan merken die Mängel ja in einer ganz akzentuierten Form. Die Corona-Pandemie erzeugt überall und auch in Österreich einen zunehmenden Druck auf die psychotherapeutischen und psychiatrischen, vor allem auch auf die kinderpsychiatrischen Einrichtungen. Und das merken wir momentan tagtäglich.

Um die Frage allgemein zu beantworten: Innerhalb des letzten Jahrzehnts hat sich sehr viel zum Positiven verbessert. Auf der einen Seite sind die Spitalsabteilungen mehr geworden und gewachsen, die stationären Betten sind mehr geworden, Tageskliniken sind dort und da entstanden. Das ist erfreulich. Auf der anderen Seite sind wir im stationären Bereich immer noch bei der Hälfte der Betten, die wir eigentlich bräuchten. Im Bereich der Niederlassung, das heißt der Kolleg*innen, die in Ordinationen tätig sind, haben wir vor fünfzehn Jahren gewissermaßen bei Null begonnen. In manchen Bundesländern, wie z.B. in Niederösterreich, wo ich in Tulln an der Klinik tätig bin, ist die Ausstattung mit fachärztlichen Ordinationen inzwischen recht gut.

Wie ist die Kapazität jetzt?

Wenn ich es richtig im Kopf habe, sind wir momentan bei etwas mehr als 400 existierenden stationären Plätzen. Und wir bräuchten etwa 800, wenn man die Messziffer anwendet, die im west- und zentraleuropäischen Raum gültig ist.

Wenn man von Self Care spricht: Wie gehen Sie mit diesem Druck um?

Ein wesentliches Faktum ist das therapeutische Team und das ist glücklicherweise etwas, das ja in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine inzwischen doch lange Tradition hat. Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein Fach, das dadurch entstanden ist, dass Vertreter verschiedener Disziplinen gewissermaßen auf Augenhöhe zusammenarbeiten.

Wenn Entscheidungsdruck da ist und man vor der Situation steht - und das ist immer wieder der Fall -, dass man Kinder und Jugendliche wegschicken muss und entscheiden muss, wer braucht den Platz dringlicher, dann ist ein ganz wesentlicher Faktor, dass man diese Entscheidungsbelastung mit anderen teilt. Wenn man ein funktionierendes Team hat, setzt man sich zusammen, holt die Meinungen der anderen ein und berät und trifft dann möglichst gemeinsam und konsensuell eine Entscheidung.

Ihre Patient*innen sind zwischen Säuglingsalter und Volljährigkeit. Was plagt die jetzt am meisten?

Durch die Pandemie-Situation und vor allem den Lockdown oder durch die Lockdowns und die dadurch entstehende besondere soziale Situation fallen soziale Korrektive und soziale Kompensationsmöglichkeiten zum Teil weg, die Kinder und Jugendliche ansonsten haben. Das merkt man. Ein einfaches Beispiel ist das Phänomen, das wir momentan in ganz Österreich sehen: Wir nehmen eine Welle von magersüchtigen Mädchen und auch Burschen wahr. Das kommt dadurch zustande, dass diese Kinder und Jugendlichen das nicht mehr vorfinden, was sonst üblicherweise im Alltag passiert, nämlich Angehörige, Lehrer und vor allem auch Freundinnen und Freunde die zu ihnen sagen: „Du, pass auf, du schaust aber schlecht aus“ oder „Du hast ja schon wieder abgenommen“ oder „Du isst nix“. Das, was von diesen Jugendlichen natürlich als lästig empfunden wird, was aber letztlich doch auch zu wirken scheint. Das passiert nicht oder viel weniger als unter Nicht-Lockdown-Bedingungen und diese anorektischen Jugendlichen nehmen daher viel rascher und viel mehr ab und kommen teilweise in kritischen Situationen zu uns an die Abteilungen.

„Soziale Korrektive und soziale Kompensationsmöglichkeiten fallen zum Teil weg, die Kinder und Jugendliche ansonsten haben. Das merkt man.“

Oder auch einfach zu verstehen: Jugendliche, die zu depressiven Reaktionen oder zu depressiven Verstimmungen neigen, haben ganz einfach die Peergroup überhaupt nicht mehr zur Verfügung. Der Kontakt, der ihnen ja sowieso schwerfällt, der aber von außen üblicherweise angeboten oder vielleicht manchmal auch aufgedrängt wird, findet jetzt gar nicht mehr statt, und die Jugendlichen sausen in ihre depressiven Löcher und Gruben hinein und dort geht es ihnen wirklich gar nicht gut. Das sind Erklärungsmodelle, die naheliegen, aber die – denke ich – trotzdem richtig sind.

Das heißt, dieses klassische dann Jemanden-doch-ansprechen-drauf und thematisieren und zu sagen, „Iss doch auch was!“, ist schon eine Reaktion, die man sich durchaus erlauben kann und sollte.

Nimmt man an einem Kind oder an einem Jugendlichen oder an einer Jugendlichen wahr, dass es dem- oder derjenigen schlecht geht in welcher Form auch immer, dann sollte man das bitte unbedingt ansprechen. Auch, wenn man weiß, dass das jetzt irgendwie Irritation erzeugt oder vielleicht Aggression oder dass das Kind vielleicht sogar zu weinen beginnt: Ansprechen bedeutet, dem Kind oder dem Jugendlichen signalisieren, ich nehme dich wahr und ich nehme dich vor allem in deinem offensichtlichen Leiden wahr, weil sonst würde man es ja nicht ansprechen, wenn man es nicht sehen würde. Das sollte man ganz unbedingt tun.

„Man sollte dem Kind oder dem Jugendlichen signalisieren, ich nehme dich wahr und ich nehme dich vor allem in deinem offensichtlichen Leiden wahr.“

Paulus Hochgatterer

Heribert Corn

Paulus Hochgatterer, können Sie uns ein bisschen Einblick geben: Wie schaut Ihr Alltag in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Tulln aus?

Wie es heute zum Beispiel war. Viel von meinem kinderpsychiatrischen Alltag ist völlig undramatisch. Ich komme um zwanzig vor acht an die Klinik, schaue meine E-Mails durch, schaue, dass ich um acht Uhr in der Morgenbesprechung sitze, weil nichts ist schlechter als ein Chef, der nicht pünktlich ist. Ich habe dort das erste Zusammentreffen mit meinem multi-professionellen Team. Momentan natürlich unter Corona-Distanzregeln. Dort wird berichtet, was am Vortag und in der Nacht vorgefallen ist, welche Aufnahmen es gegeben hat etc.

Dann gibt es eine Besprechung mit meinen ärztlichen Kollegen und danach gibt es etwas, das bei uns Gruppenvisite heißt. Wir haben ein Kleingruppensystem. Heute habe ich die Gruppe der Tagesklinik visitiert: Da sitzen wir dann gemeinsam mit dem Gruppenteam und mit den Kindern und besprechen, wie es ihnen geht, was los ist, welche Veränderungen es gegeben hat, welche Fortschritte erreicht wurden, diese Dinge. Die zweite Gruppenvisite war heute mit der Jugendlichengruppe, mit den 14- bis 18-Jährigen. Das ist immer ganz besonders spannend, weil Jugendliche auch an einer Kinder- und Jugendpsychiatrie so sind, wie Jugendliche halt auch sein müssen: frech, ein wenig provokant, oppositionell. Und so schauen dann auch diese Gruppenvisiten aus. Da sitzt das Team gemeinsam mit den Jugendlichen und wir besprechen die wichtigen Dinge gemeinsam.

Was brauchen Jugendliche jetzt unbedingt? Wenn wir jetzt noch nicht von jenen sprechen, die zu Ihnen gebracht werden. Jugendliche wollen ja raus und haben normalerweise einen Freundeskreis, einen Bekanntenkreis, haben Abstand auch zu ihren Eltern.

Ja, Jugendliche brauchen das, was wir in Wahrheit auch brauchen: Jugendliche brauchen soziale Kontakte. Und für Jugendliche finden die wichtigsten sozialen Kontakte innerhalb der Peergroup, also der Gleichaltrigen statt. Die brauchen sie ganz dringend und ganz besonders, und die suchen sie sich auch, auch unter Corona-Bedingungen.

„Jugendliche brauchen soziale Kontakte.“

Und der Umstand, dass Jugendliche mit Sozialen Medien viel souveräner umgehen als wir, führt ja auch dazu, dass die Sozialen Medien diesbezüglich ganz sinnvoll genutzt werden. Aber Jugendliche wollen auch heute, nach wie vor, realen, physischen Kontakt haben. Die wollen ihre Freunde sehen und umarmen und mit ihnen durch die Stadt oder durch den Wald gehen und Rad fahren und Skateboard fahren und diese Dinge tun, die momentan schwerer möglich sind als bisher. Das ist das Allerwichtigste: Die Peergroup, die momentan sehr eingeschränkt zur Verfügung steht.

Was würden Sie empfehlen: Wie kann man vorgehen, wenn man Jugendliche in der Familie hat? Wie soll man da abwägen?

Naja, das ist eine schwierige Situation. Denn was man nicht tun kann, ist, Eltern zu empfehlen, dass sich ihre Kinder oder Jugendlichen über die Corona-Bestimmungen hinwegsetzen. Das ist eine ziemlich heikle Angelegenheit. Wenn es irgendwie geht, sollten sich die Kinder und Jugendlichen mit ihren Freunden treffen können. Auch mit Maske und in jedem Kontext, der ansonsten selbstverständlich ist. Und das sollten die Eltern fördern. Ich mag da überhaupt nichts bagatellisieren, aber es ist schon nützlich, wenn sich gerade Eltern gelegentlich vor Augen führen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder und Jugendliche schwer an Covid erkranken, viel, viel geringer ist als bei älteren Menschen.

Das ist kein Appell, die Sache nicht ernst zu nehmen. Aber es ist ein Aufruf zur Rationalität und zu einem vernünftigen Umgang damit, zu einem möglichst nicht unnötig ängstlichen.

Momentan habe ich den Eindruck, es wird so viel über Kinder gesprochen, wie gesellschaftlich schon länger nicht. Gibt es etwas, was Ihnen da abgeht, in dieser auch medial geführten Debatte? Es wird ja regelrecht diskutiert. Gibt es einen Aspekt, der übersehen wird?

Was mir fehlt, aber vielleicht liegt das auch an meiner fehlenden Aufmerksamkeit: Die mathematischen Modelle in Bezug auf die Gefährlichkeit des Schulbesuchs habe ich nie wahrgenommen.

Es gibt inzwischen für alles, was Covid betrifft, mathematische Berechnungen oder Wahrscheinlichkeitsberechnungen. In Bezug auf Kinder und vor allem auf Kinder und Schulbesuch gab es Appelle und Warnungen usw. Aber ein schlüssiges Modell, das einem vor Augen geführt hätte, wie gefährlich es ist, wenn man eine Klasse von Zehnjährigen oder eine Klasse von 14-Jährigen so und so viele Stunden und Tage die Woche aufeinander loslässt, wie sonst auch – diese Rechenmodelle haben mir bis jetzt gefehlt. Also sozusagen auch ein Stück in Form gegossene Rationalität in Bezug auf dieses Thema.

Die dann Erziehungsberechtigten einfach Anhaltspunkte bieten würde.

Genau: Die einleuchten, die Anhaltspunkte bieten und letztlich auch zu Handlungsrichtlinien werden. Aber man wünscht sich so viel in diesen Zeiten und das ist so schwierig, weil es auf der anderen Seite des Altersspektrums um ganz dramatische Dinge geht und einfach ums Sterben. Und das ist bei den Kindern und Jugendlichen Gott sei Dank nicht der Fall.

Die wissenschaftliche Evidenz, wie es immer so schön heißt, fehlt uns da. Meine persönliche Erfahrung ist, dass Kinder lange Zeit nicht angeschaut worden sind. Weil es zum Glück nicht so viele schwere Fälle gegeben hat.

Genau, ganz wenige. Die Kinder waren dort interessant, wo es zumindest die Vermutung gegeben hat, sie könnten als Überträger eine gewisse Gefahr bedeuten. Dort hat man genauer hingeschaut, aber sonst anfangs eher nicht so. Das ist angesichts der Dramatik und der Akuität der Situation auch ein Stück verständlich.

Und nur, weil Sie Evidenz angesprochen haben: Evidenz ist leider immer auch eine Sache von Zeit, die einem zur Verfügung steht. Wir überblicken jetzt genau ein Jahr und das ist in Zeiträumen der Wissenschaft gedacht ein extrem kurzer Zeitraum.

„Wir überblicken jetzt genau ein Jahr und das ist in Zeiträumen der Wissenschaft gedacht ein extrem kurzer Zeitraum.“

Das Buchcover zu Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe von Paulus Hochgatterer. Die Schrift ist mit Stiften gezeichnet.

Deuticke

Eines der klügsten Bücher über Kindsein und Literatur, in dem man immer wieder nachlesen kann, ist Paulus Hochgatterers „Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe“.

Constantin Wulffs Kinodokumentarfilm Wie die anderen" portraitierte 2015 den Arbeitsalltag der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tulln.

Sie wären grundsätzlich sehr dafür, dass die Schulen offen sind für den Unterricht?

Der Ort, wo das stattfindet, was Jugendliche brauchen, nämlich das Zusammenkommen der Peergroup, ist die Schule. Es gibt natürlich auch andere Orte. Aber wo das überwiegend stattfindet, ist die Schule.

Ich glaube nicht an die Lost Generation und ich glaube nicht daran, dass die Kinder, die unter Corona-Bedingungen unterrichtet wurden, am Ende weniger können als die anderen. Das glaube ich überhaupt nicht. Aber ich glaube, dass sie ein Jahr ihre Gleichaltrigenkontakte in sehr reduzierter Form genossen haben. Und das ist für mich das, was möglichst rasch korrigiert werden sollte.

Haben Sie einen Tipp, was man sich und anderen jetzt Gutes tun kann in Situationen akuter Überforderung?

Man sollte die Freiheiten, die es auch unter Corona-Bedingungen gibt, auf alle Fälle nützen. Jetzt, ich schaue durch das Fenster raus, wo die Sonne scheint und es anscheinend zumindest demnächst Frühling wird, sollte man sich einfach auch rausbegeben aus den vier Wänden und den Horizont wieder zum Üblichen erweitern. Das sollte man vor allem tun. Und man sollte sich darauf besinnen, dass es ja erlaubt ist, mit Maske oder auch mit Abstand den einen oder anderen Freund zu treffen und mit ihm oder mit ihr spazieren zu gehen. Auch mit zwei Meter Abstand kann man ein Gespräch miteinander führen.

Also mit jemandem außerhalb der Familie, außerhalb der Beziehung?

Ja! Genau. Ich würde einmal vermuten: Die Familie ist uns in diesem Jahr sehr, sehr vertraut geworden, und der Sehnsucht, auch einmal jemanden zu sehen, der nicht der Familie angehört, dieser Sehnsucht sollte man, sobald es geht, nachgeben.

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