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Ausschnitt aus der Serie "We are who we are"

Yannis Drakoulidis/HBO

„We Are Who We Are“ ist schmerzhaft schönes Coming of Age

In seiner ersten Arbeit fürs TV benützt der italienische Regisseur Luca Guadagnino den Handlungsort, eine US Military Base in der Nähe von Venedig, wie ein Mikroskop, um über die Brüche und Machstrukturen zu erzählen, die sich durch die Militärfamilien und die einzelnen Charaktere ziehen.

Von Natalie Brunner

Militärbasen sehen auf der ganzen Welt gleich aus, erfahren wir von den Jugendlichen deren Eltern dort beim Militär arbeiten. Es sind Jugendliche, die in einem künstlichen kleinen Amerika, isoliert von ihrer italienischen Umwelt, aufwachsen. Auch durch ihre Crew zieht sich ein durch Machtstrukturen verursachter Bruch, weil es teilweise die Kinder von ranghohen Militärs und teilweise sehr junge Rekruten sind, die gemeinsam in der Nacht in den Pool einbrechen.

In dieses Szenario wird der 14-jährige, in New York City aufgewachsene Fraser geworfen. Seine Mutter Sarah, gespielt von Chloe Sevigny, ist der neue Colonel der Airbase im Veneto. Ihre brasilianische Frau Maggie, gespielt von Alice Braga, eine rangniedrige Majorin und der gemeinsame Sohn Fraser ziehen mit in die generische US-Miniretorten-Stadt. Fraser verweigert total, sowohl den Army Drill als auch seine Mütter, die selbst damit zu tun haben, das berufliche Hierarchiegefälle privat zu transzendieren.

Ausschnitt aus der Serie "We are who we are"

Yannis Drakoulidis/HBO

Realistische Charaktere, die polarisieren

Wie gut und realistisch Guadagnino seine Charaktere entworfen hat, kann man an den sehr emotionalen und konträren Reaktionen auf die Figur Fraser erkennen. In allen Reviews wird die Darstellung des Schauspieler Jack Dylan Grazer gelobt. Manche Reviews beschreiben Fraser als verzogenen Balg, eine unappetitliche pubertäre Baustelle und abstoßend für die Betrachter*innen.

Für mich ist der 14-jährige Fraser ein Held. Es gehört verdammt viel Mut und Rückgrat dazu, als genderfluide Person, die sich in jungen Jahren einen Höchstgrad an kultureller Sophistikation erarbeitet hat, gekleidet in einer Mischung aus 90er Jahren Acid House Fashion russischen und japanischen Avantgarde Designern, in eine US Army Base hineinzuspazieren und der ganzen Umwelt deutlich zu machen, dass man nichts mit dem archaischen Scheiß zu tun haben möchte. Dass Fraser an diesem unmöglichen Ort in Caitlin/Harper eine/en Seelenverwandte/n findet und ihr/ihm Optionen einen Weg zeigen kann, hat mich tief gerührt bewegt und gefreut. Meine Tränen sind beim Season Finale, das auf einem Blood Orange Konzert spielt, geflossen. Devonte Hynes aka Blood Orange hat auch den Score zu der Serie komponiert.

„We Are Who We Are“ entwickelt einen starken Sog

Diese emotionalen Reaktionen von vermeintlich „professionellen“ Reviewerinnen sind Reflexionen von Ideologien, die Guadagnino’s Figuren zurückwerfen und ein Qualitätsmerkmal seiner Serie. „We Are Who We Are“ entwickelt einen starken Sog, weil Regisseur Guadagnino nicht auf äußerliche Ereignisse fokussiert, sondern auf das Innenleben der Figuren und wir Zuseher*innen so eine große Empathie für die politischen Konflikte und die Isolation der verschiedenen Charaktere entwickeln. Wir nehmen die Geschehnisse gleichzeitig aus den oft in sich widersprüchlichen emotionalen und politischen Perspektiven der Charaktere wahr.

Ausschnitt aus der Serie "We are who we are"

Yannis Drakoulidis/HBO

Caitlin/Harpers Vater zum Beispiel: Richard Poythress gespielt von Kid Cudi. Er ist afroamerikanischer US-Lieutenant, Trump Unterstützer, seine auf der Base diskriminierte Frau ist Nigerianerin, die einen sich nun dem Islam zuwendenden Sohn mit in die Ehe gebracht hat und die leibliche bevorzugte Tochter weigert sich nun eine heteronormative weibliche Identität anzunehmen. Seine neue Vorgesetzte, Colonel Sarah, weiß, lesbisch, aus der US-amerikanischen Elite mit guten politischen Verbindungen, schickt die, von ihm nicht fertig ausgebildeten Teenager, Freunde seiner Kinder, aufgrund bürokratischer Schreibtischentscheidungen in den Tod. Ein Militärleben dessen Konflikte mir glaubhaft und realistisch erscheinen.

Es ist ein Erzählen des Inneren auf einem räumlich begrenzten Tableau, etwas das Luca Guadagnino meisterhaft beherrscht. Das hat seinem Film „Call Me By Your Name“ aus dem Jahr 2017 neben vielen Auszeichnungen auch eine Oscar Nominierung gebracht. „We Are Who We Are“ ist ein wichtiges, realistisches und wunderschön- schmerzhaftes Stück Serien-Geschichte über Identitätspolitiken der Gegenwart.

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