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UK vor dem EM Semifinale Impressionen

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Ballfieber in der Variantenfabrik

England vor dem Semifinale: Wird Trainer Gareth Southgate von einer „woken“ Verschwörung gesteuert? Was sagt uns das Verhalten der Kaninchen über die Psychologie rechtslibertärer (Pandemie-)Politik, und wieso wird jene in Wembley triumphieren, egal wie das Spiel ausgeht?

Von Robert Rotifer

Ich muss zugeben, mein Hirn ist grad leer („wie eh immer“, ja, witzig, danke), aber vorgestern noch hatte ich zugesagt, hier einen Stimmungsbericht zu Englands bevorstehendem EM-Semifinal-Match gegen Dänemark schreiben, und dann hat mich der am selben Tag erlittene Tod jenes Kaninchens, mit dem wir hier in der englischen Einschicht die letzten paar Lebensjahre geteilt haben, doch irgendwie härter getroffen.

Viele Leute halten Kaninchen ja für wenig intelligent, aber wie ich aus eigener Erfahrung mit zwei Exemplaren der Spezies berichten kann, ist ihre scheinbare Fixierung auf Fressen und Flüchten (und Fortpflanzung, wenn man sie lässt) eine Frage der Lebensumstände.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ein Kaninchen, das sich in Bezug auf Nahrung und geschützte Umgebung sicher fühlt, entwickelt nämlich bald ein kontemplatives, zumindest scheinbar nachdenkliches Verhalten, wie man es sonst eher Katzen zuschreibt. Und wer bin ich, euch vorzuschreiben, daraus nicht Rückschlüsse auf menschliches Verhalten zu ziehen? Bzw. darauf, warum es Menschen, die über andere herrschen, so sehr zupass kommt, dass ihre Kaninchen immer gerade genug Angst vor Bedrohungen haben, um nicht zur Ruhe zu kommen und sich Gedanken zu ihrer eigenen Lage zu machen.

Die andere Methode, ein Kaninchen von existenziellen Analysen abzuhalten, ist natürlich die der Karotte. Wer unserer gerade verstorbenen Connaisseuse eine solche oder auch zum Beispiel eine saftige Mohnblume reichte, konnte ihr dabei zusehen, wie sie mit ihrer Eroberung im Maul triumphale Jubelrunden über den Rasen drehte, den sie zuvor eigenmündig stadiontauglich kurz gemäht hatte.

Womit wir endlich beim Fußball angelangt wären. He, ich hatte ja auch nie versprochen, über den Fußball selbst zu schreiben, das können andere besser, in meiner letzten Kolumne letzte Woche ging’s eh auch nur um das Drumherum, und in dieser Hinsicht hat sich seither schon auch das eine oder andere getan.

England spielt also sein Semifinale dank der anglozentrischen Logik der Planung dieser EM daheim.

Dass die Hardliner-Innenministerin Priti Patel diesem Umstand mit „#ItsComingHome“ unter Verwendung eines äh ... interessanten Emojis per Twitter Tribut zollte, ist origineller, als es scheint. Schließlich hatte sie noch am 14. Juni zum Thema Taking The Knee (siehe vorige Kolumne) erklärt, sie gehe nicht zu Fußballspielen und komme daher nicht in Verlegenheit, sich zu überlegen, ob sie Englands Team wegen seiner Unterstützung für die „verheerende“ „Black Lives Matter“-Bewegung (Originalton: „devastating“) im Verein mit erzürnten „Fans“ ausbuhen solle oder nicht.

„What a team“, tweetet sie jetzt also. Gleichzeitig kündigt sie neue scharfe Maßnahmen gegen ohne Visum einreisende, „abscheulich kriminelle“ Asylsuchende an, die bis zur Internierung außerhalb der britischen Inseln reichen sollen (angedacht sind Optionen wie Lager auf der südatlantischen Vulkaninsel Ascension Island, auf stillgelegten Bohrinseln oder Kanalfähren). Parallel dazu hat das Parlament vorgestern ein von ihr initiiertes Polizeigesetz abgesegnet, das genau jene Art von Protest unterbinden soll, mit dem sich das England-Team durch seine Kniebeugengeste solidarisiert.

UK vor dem EM Semifinale Impressionen

Robert Rotifer

Laut einer Kolumne von Gideon Rachman in der „Financial Times“ unter der Schlagzeile „Kann Gareth Southgate sowohl den Titel als auch einen progressiven Patriotismus herbeiführen?“ (zur Umgehung der Paywall hier ein Text über diesen Text) machen sich die Strateg*innen der regierenden Konservativen ernsthaft Sorgen über diesen augenfälligen Widerspruch.

Sie befürchten, ein möglicher Triumph der symbolisch für einen multiethnischen England-Begriff und gegen Rassismus stehenden englischen Mannschaft könnte als Niederlage für die „anti-woke“ Agenda der Regierung wahrgenommen werden.

Der von Rachman zitierten, regierungsnahen Quelle zufolge entwickle England-Trainer Southgate sich zu einem „Werkzeug“ - analog zum Trump’schen Phantom des „Deep State“ - als „Deep Woke“ charakterisierter feindlicher Kräfte. Sein (in meiner letzten Kolumne ausführlich zitierter) Appell an die Anhänger*innenschaft, die Botschaft des Teams gegen rassistische Diskriminierung zu akzeptieren, sei „verdächtig gut geschrieben“ gewesen.

Ein eloquenter Fußballtrainer, das ist ohne Unterwanderung durch gefährliche Intellektuelle gar nicht denkbar. Beinahe so schlimm wie all die „gloomy scientists“, denen der Premierminister laut Titelseite der gestrigen „Daily Mail“ „getrotzt“ habe, indem er den 19. Juli definitiv zum „Freedom Day“ erklärte.

Bis dahin sollen nämlich in Großbritannien nicht nur die Maskenpflicht, sondern auch alle Social-Distancing-Regeln fallen. „Wenn nicht jetzt, wann sonst“, ist des Buffo-Churchill messerscharfe Logik, im Herbst werde es ja bloß noch mehr Infektionen geben. Warum also jetzt nicht dafür sorgen, dass diese Vorhersage auch ganz sicher eintritt?

Schließlich zeigt der Graph der Infektionen in diesem Land steil nach oben und könnte selbst nach Voraussagen des neuen Gesundheitsministers Sajid Javid demnächst auf einen Rekordwert von 100.000 Neuinfektionen pro Tag steigen.

Das macht der Regierung wenig Bedenken, denn man baut darauf, durch die Impfkampagne die kausale Verbindung zwischen Infektionen und schweren Krankheits- bzw. Todesfällen ausreichend geschwächt zu haben.

Zum Zeitpunkt dieser Verlautbarung ist übrigens gerade einmal die Hälfte aller Brit*innen zweifach geimpft, und die „gloomy scientists“ warnen, so ein mutwilliges Eskalieren der Infektionen käme dem Bau von „Variantenfabriken“ gleich.

UK vor dem EM Semifinale Impressionen

Robert Rotifer

Gesundheitsminister Javid hat erst kürzlich den Posten des unter eigenartigen Umständen beseitigten Health Secretary Matt Hancock übernommen (das Murdoch-Blatt „The Sun“ hatte mittels versteckter Filmaufnahmen aus einem Büroraum im Gesundheitsministerium Hancocks Affäre mit einer engen Mitarbeiterin enthüllt).

Er ist ein glühender Verehrer der Schriften der rechtslibertären Ikone Ayn Rand und sieht dementsprechend das Maskentragen nicht als Frage des Gemeinnutzens, sondern einer „persönlichen Entscheidung.“

Und so wird selbst das Befolgen oder Nichtbefolgen der Covid-Regeln (ebenfalls nach alter Trump’scher Spielanleitung) flugs zum Austragungsort der von dieser Regierung beharrlich befeuerten Culture Wars gemacht. Noch am Abend der Ankündigung der großen Öffnung saß eine konservative Unterhausabgeordnete im BBC-Nachrichtenstudio und unkte freimütig über den zweifelhaften Nutzen der leidigen Gesichtsbedeckung, so als schrieben wir Frühling 2020.

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„Download the App“ steht auf den türkisen Bannern

Indessen lebt die arbeitende Kaninchenbevölkerung in ständiger Angst vor dem „Ping“ der Covid-App des Gesundheitssystems, die einem gegen Androhung hoher Geldstrafe zehn Tage Selbstisolierung verordnet, wenn man sich etwa im selben Pub wie ein*e Infizierte*r aufgehalten hat. Was in Kombination mit explodierenden Infektionsraten und – je nach Dienstverhältnis – minimalen bis gar nicht vorhandenen Krankenstandszahlungen die beste Motivation schafft, die Verwendung dieser App geflissentlich zu meiden. Aber bis Mitte August soll die Selbstisolierung für Geimpfte und unter 18-Jährige (die hier einstweilen gar nicht geimpft werden) sowieso auch abgeschafft werden, natürlich der persönlichen Freiheit zuliebe.

Unter genau diesem Aspekt werden die letzten beiden Spiele dieser EM der britischen Regierung einen Propagandasieg in ihren Culture Wars einbringen, ganz egal, wie das England-Spiel ausgeht. Denn wenn die britischen Behörden im Verein mit der UEFA 60.000 Zuschauer*innen ins Wembley-Stadion lassen, ist das nicht bloß Leichtsinn, sondern Teil des wiederbelebten Experiments der Herdenimmunität.

Ein großer Gamble mit der Gesundheit der ganzen Kaninchenpopulation, verkauft als deren Befreiung.

Ich halte nun aus in meiner letzten Kolumne bzw. oben erklärten Gründen immer noch zu Gareth Southgates Team. Von mir aus sollen sie all the way gehen, forgive me, Dänemark.

Aber die Art der Austragung dieser finalen Turnierspiele just in dieser Phase der britischen Pandemiepolitik ist schon ein zutiefst bedenklicher Akt, der einem das Mitjubeln erheblich schwerer macht.

PS: Gestern mit einer Frau in den frühen Zwanzigern geredet, deren zweite Impfung vorläufig abgesagt wurde, weil das Impfmittel ausgegangen war. Man wisse noch nicht, wann wieder was reinkommen werde, habe ihr die zuständige Arztpraxis gesagt. Das würde auch erklären, warum die britische Impfrate nun schon seit einiger Zeit so beharrlich rückläufig ist.

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