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Priya Ragu

Patrick Muennich

festivalradio

Eskapismus de luxe am ersten Tag am Waves Festival

Einmal geht noch: Wenn man denkt, der Sommer sei längst vorbei, kommt im letzten Moment das Waves Festival um die Ecke und schenkt uns ein letztes Mal eine gute Portion Festivalfeeling mitten in der Stadt.

Von Melissa Erhardt

To be quite honest: Der Zeitpunkt Anfang September ist perfekt. So können wir uns noch einmal so richtig mit neuer, bis dato unbekannter Musik eindecken, von der wir dann in der kuschelig-kalten Jahreszeit zehren können. Das steht beim größten Showcase-Festival Österreichs nämlich im Mittelpunkt: das Neue entdecken.

Waves Festival

Alexander Galler

Der frühe Vogel fängt den Wurm oder so, los geht es am Waves Festival jedenfalls früh, zwar nicht mit Livemusik, aber mit der seit jeher zum Festival gehörenden Konferenz. Ab zehn Uhr vormittags wird hier mit diversen Panels, Workshops und Lectures zum Zuhören und Nachdenken eingeladen, im Fokus steht, das merken wir schnell, das große Thema Diversität und Gleichheit. Es soll ein Cornerstone des diesjährigen Waves sein, Unterstützung hat man sich dafür von außen geholt - etwa von FM4s Dalia Ahmed und von den Musiker*innen Kem (Kerosin95) und Mwita Mataro (At Pavillon).

Mirca Lotz

Radio FM4

Mirca Lotz ist mit der Initiative „Safe the dance“ am Waves Festival vertreten.

Sensibilisierung passiert dabei aber eben nicht nur für interessierte Conference-Ticket-Holder hinter verschlossenen Türen, sondern überall. Dafür sorgt zum Beispiel das interaktive Ausstellungsformat, „See The World Through Different Eyes“. Kuratorin Mirca Lotz hat dafür mit ihrer Diversity- und Awareness-Agentur „Safe the Dance“ 140 Zitate gesammelt, die verschiedenste Formen von Übergriffen darstellen. Diese sind nun in den Toiletten, auf den Tischen und Wänden der Venues zu sehen.

„Wir haben das Gefühl, dass viele Leute einfach noch ein bisschen mehr lernen müssen über diese ganzen Probleme, die die Welt für viele betroffene Menschen so mit sich bringt, und dass eben Marginalisierung und Diskriminierung für viele Menschen Alltag ist“, sagt sie im Gespräch mit FM4, und weist darauf hin, wie wichtig Allyship in Fällen von Belästigung und Diskriminierung im Veranstaltungsbereich ist. „Viele haben Angst, etwas falsch zu machen und es dadurch schlimmer zu machen. Da müssen wir sagen: Das ist, wie wenn jemand gerade einen Herzstillstand hat. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass die Leute nicht reagieren.“

Musikalisch beginnt der Donnerstagabend im WUK mit zweierlei: Während im Beisl der atmosphärische Synth-Pop des Wiener Duos Another Vision mit Vollkaracho angefahren wird und man langsam checkt, was sie mit dem „intimate dance between high gloss and image noise“ in ihrer Insta-Bio meinen, steht ein paar Schritte weiter im WUK Foyer alles im Zeichen des leichtfüßigen, sonnengetränkten Gitarrenpop aus der Feder von Lil Julez.

Lil Julez

Patrick Muennich

Lil Julez

Zwei Singles hat der 22-jährige Wiener offiziell erst releast, dass der junge Musiker aber einiges mehr in petto hat, wird schnell klar. Mit vierköpfiger Liveband katapultiert er uns in die Kooks-Anfangsjahre zurück, lediglich ein bisschen trashiger, ein bisschen ungewollter, ein bisschen selbstironischer wirkt das Ganze. Ausgewaschene Shirts, abgetretene Sneaker, ein flaumiger Oberlippenbart und Spongebob-Bühnenansagen („Seid ihr bereit, Kinder?“) machen das Gen-Z-Indie-Bedroom-Bandprojekt perfekt. Man wünscht sich irgendwie, diese ganzen Tracks hätten schon zwei Monate früher existiert, so viel Sommer, so viel Leichtigkeit steckt in den warmen und überraschend tiefen Vocals drinnen.

Crying on the dancefloor

Location- und Mood-Wechsel in die Gürtellokale des achten Bezirks, die heuer das erste Mal Teil des Waves sind. Einerseits natürlich ein genialer Streich - so dringt das Festival ein Stück weiter nach außen -, andererseits gestaltet sich das Sich-treiben-Lassen am Festival damit doch deutlich mühsamer als sonst. Waren es letztes Jahr von der Canisiuskirche zum WUK schon knackige zehn Minuten Fußweg, ist es heuer von der WUK-Homebase zu den Gürtellokalen wie Chelsea, Loft, Fania Live und Weberknecht eine lästige halbe Stunde oder vier Stationen mit der U-Bahn. Für einen Act rüber zu spazieren, zahlt sich kaum aus, ein guter Festivalplan erfordert also einiges an durchdachter Vorarbeit (insert confused lady meme here). Aber zurück zum Abend.

Monako

Hannah Toegel

Monako

Steigt man die Stufen in das Kellergewölbe des Weberknechts hinunter, bläst einem gleich der leichte Wind der Lüftung entgegen, die Lichter flackern in bunten Farben auf die fünfköpfige Truppe auf der Bühne, die Atmosphäre ist hier anders, intimer irgendwie, speziell. „Wir sind vorhin hier runter gekommen, waren ganz allein und haben direkt eine Sinnkrise bekommen“, schmunzeln die Deutsch-Kanadier Monako ins Mikrofon, sichtlich erfreut über die Crowd, die sich doch noch zusammengefunden hat. „Hier ein Konzert spielen zu dürfen – in front of so many people –, das bedeutet uns wirklich viel.“ Seit 2018 machen Monako gemeinsam Musik. Zeitlos ist diese, und schwer in Genres zu fassen: Das klingt mal nach Indie, mal nach R’n’B, mal nach Folk und mal nach Rock. Es ist eher die Stimmung, die als verbindendes Element fungiert. Das ist die Musik, die es in dramatischen Abschiedsszenen in Filmen spielt, bittersüß und beruhigend zugleich, man möchte sich am liebsten eingraben und weinen, wenn es im mehrstimmigen Gesang heißt: „I Can’t Forget, Will I Ever Wake Up?“ Im cuten Denglish geht es mit den Bühnenansagen weiter, und man fragt sich, was auf so einer kleinen Bühne eigentlich noch alles passieren kann: Da wird konzentriert in die Gitarren reingearbeitet, auf die Pedale getreten, in Synthies und Keyboardtasten gehauen, und obwohl jeder der fünf Bandmitglieder nur mit seinem eigenen Instrument beschäftigt zu sein scheint, ergibt doch irgendwie alles zusammen Sinn.

Berglind

Alexander Galler

Berglind

Ähnlich geht es im Loft weiter, wo Giovanna Fartacek als Berglind ihr Livedebüt gibt. Auf der Bühne untermalen dunkle Bässe und glitzernde Synthesizer ihre lyrische Poesie, deutscher Elektropop verschmilzt mit Deep House verschmilzt mit Darkpop. Fartacek fühlt sich wohl auf der Bühne, bewegt sich verträumt und mit einer guten Portion Pathos zu den aufbrausenden Synths, während im Keller langsam die Hitze aufsteigt. Die Abwärme der Lüftung aus dem Weberknecht wäre jetzt Gold wert. Spätestens bei der Pianoballade, die Fartacek für ihre verstorbene Großmutter geschrieben hat („I wish I could drink some Chianti with her right now“), können die ein oder anderen die Tränen nicht mehr zurückhalten, Fartaceks filigrane Falsettstimme trifft direkt ins Herz. Wenn es hier ein Motto gäbe, es wäre wohl „Cry on the dancefloor“.

Nach einer guten Stunde Eskapismus de luxe geht es zurück an die Gürteloberfläche. Der Handyempfang ist zurück, die Queen gestorben, es regnet in Strömen. Der Himmel weint, der Abend befindet sich in einem dramatischen Akt. Für etwas Auflockerung hätte jetzt vielleicht der „Weirdo-Pop“ der schottischen Trans-Musikerin Alice Low im Fania Live gesorgt („Ladydaddy“, ihre Debütsingle, ist ganze 14 Minuten lang und versprüht dabei queere Johnny Cash Vibes. Muss man mehr sagen?), die Musikerin musste ihren Gig jedoch wegen gesundheitlicher Probleme absagen. Es geht also wieder zurück in die WUK-Homebase.

Lisa Pac

Patrick Muennich

Lisa Pac

Dort haben sich viele ob des Regens ins Beisl geflüchtet, keine Chance also, den politischen R’n’B-Pop-Entwurf der in Wien lebenden Musikerin Christl live zu sehen, so voll und stickig ist es dort. Stattdessen geht es in die WUK Halle, wo Warner Music die Bühne übernommen hat. Nach der deutschen Musikerin Wilhelmine ist hier nun die Wienerin Lisa Pac am Start. Es sei eine ganz besondere Show für sie, erzählt sie der Crowd mit ehrlicher Euphorie. Vor drei Jahren habe sie hier im WUK ihren ersten Auftritt als Lisa Pac gespielt, es sei also mehr als besonders, jetzt wieder hier stehen zu dürfen. Noch besonderer ist das Ganze wohl, weil Lisa Pac mit ihren geschliffenen, makellosen Popsongs heuer für den XA-Award nominiert ist – ebenso wie Farce, die das WUK Foyer währenddessen in einer beeindruckenden One-Person-Show zum Glühen bringt, die Synthies aufgedreht, die Lichter flackernd. Das ist Turn-up in intimer Atmosphäre, das ist der Dancefloor als wahr gewordene Utopie, man möchte tanzen, leben, lachen und weinen, am besten alles zugleich.

Farce

Klaus Zwinger

Farce

„Ragu Wavy“

Um halb elf kommt schließlich das große Highlight des Donnerstags: Priya Ragu. Die Musikerin hat ein ziemlich aufregendes Jahr hinter sich. Nach der Veröffentlichung ihres Debütalbums „damnshetamil“ war die Schweizerin auf internationaler Tour, hat auf Festivals wie dem Primavera gespielt, stand auf der renommierten BBC Sounds of 2022 List, ihre Single „Chicken Lemon Rice“ wurde in einer Netflix Rom-Com gefeaturet. Viel los also. „Es war ziemlich krass, surreal für mich“, erzählt sie im FM4 Interview über das letzte Jahr. „Es sind so viele Sachen passiert. Ich hab nicht genau gezählt, aber wir haben circa 40 Konzerte gespielt - und wir haben nicht einmal gestritten. Krass oder?“

Priya Ragu

Patrick Muennich

Priya Ragu

Auf der Bühne packt sie gemeinsam mit ihrer Band den „Ragu Wavy“ aus, so nennen sie und ihr Bruder und Produzent Japhna Gold den von ihnen geschaffenen Mix aus R&B, Soul, Hiphop und traditioneller tamilischer Musik. Spirituelle Krishna-Chants haben hier ebenso Platz wie Kaytranad’eske Beats, sassy Rap Parts und Kollywood-Samples (denke Bollywood, nur eben auf Tamil).

Auf der Bühne hat das etwas sehr Befreiendes. Wenn Priya über Liebe singt, die stärker ist als gesellschaftliche Normen, über innere Stärke und Leidenschaft, die uns Menschen zu einer Art „higher beings“ machen kann, über das vielleicht etwas liberale, aber durch und durch verständliche Mindset à la „Wenn du nur hart genug für etwas kämpfst, schaffst du es auch“, dann kommt das aus einer Position heraus, die ehrlich ist. Was für andere nach Klischee klingt, war für Priya, deren Eltern in den 80ern vom Bürgerkrieg in Sri Lanka in die Schweiz geflüchtet sind, immer der größte Antrieb, das größte Lebenselixier, wenn man so will. Sie wolle Stereotypen infrage stellen, die Menschen aus Sri Lanka immer als Köche oder Reinigungskräfte zeigen, sagte sie einmal in einem Interview, auf der Bühne am Waves Festival manifestiert sie: „Music is my superpower“. Auch wenn die erste Nacht am Waves Festival mit Priya Ragu noch nicht zu Ende ist: Es ist ein mehr als würdiger Höhepunkt.

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