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The Boy and the Heron

Studio Ghibli

Miyazakis neues Meisterwerk „The Boy and the Heron“

„The Boy and the Heron“ ist Hayao Miyazakis mittlerweile zwölfter Film und der zehnte für das japanische Studio Ghibli. Ein bildgewaltiges Abenteuer voller kurioser Wesen und Welten, das den Fragen des Menschseins nachgeht. Gewohnt feinsinnig und detailverliebt, dabei aber noch rätselhafter und abstrakter erzählt als Miyazakis bisherige Filme.

Von Jan Hestmann

Die Review ist im Rahmes des Screenings bei der Viennale 2023 entstanden. In den österreichischen Kinos startet „Der Junge und der Reiher“ am 4.1.2024.

Ein hörbares Schmunzeln geht durch die Ränge des ausverkauften Gartenbaukinos in Wien, als das Logo des japanischen Studio Ghibli auf der riesigen Leinwand erscheint: Ghiblis Spirit Animal Totoro im Profil, vor dem vertrauten, sattblauen Hintergrund. Das Viennale Filmfestival zeigt „The Boy and the Heron“, über den bis zur Japan-Premiere im Juli 2023 wenig bis nichts bekannt war. Nicht einmal einen Trailer gab es bis zu diesem Zeitpunkt. Die Marketing-Devise entgegen gängigen Hollywood-Strategien: Weniger ist mehr.

Ein bisschen Wehmut schwingt mit, wurde im Vorfeld doch, wenn auch nicht zum ersten Mal, angekündigt, es handle sich um den letzten Film des 82-jährigen Regisseurs, Zeichners und Filmproduzenten Hayao Miyazaki. Seinen Rücktritt angekündigt hatte er zuletzt auch schon 2013 nach seinem letzten Spielfilm „Wie der Wind sich hebt“, aber dann hat er sich eben doch wieder an seinen Schreibtisch gesetzt und weitergearbeitet, zur Freude aller Ghibli-Fans.

Fast vierzig Jahre ist es her, dass Miyazaki mit seinem Film „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ den Grundstein für Studio Ghibli gelegt hat, das längst legendäre japanische Animationsfilmstudio, das er gemeinsam mit Isao Takahata und Toshio Suzuki gegründet hat. Filme wie „Mein Nachbar Totoro“, „Chihiros Reise ins Zauberland“ und „Prinzessin Mononoke“ haben den unverwechselbaren Stil des Studios geprägt und bald nicht nur in Japan, sondern auch international für große Erfolge gesorgt. Allerspätestens wohl dann, als „Chihiros Reise ins Zauberland“ 2003 mit dem Oscar für den besten Animationsfilm ausgezeichnet wurde.

The Boy and the Heron

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Wo anfangen bei den Filmen von Studio Ghibli?

Eine Auswahl besonders schöner und prägender Filme des japanischen Filmstudios.

Einzigartige imaginäre Welten zu erschaffen und diese mit Figuren zu füllen, die er selbst mag - so hat Miyazaki einmal beschrieben, was Animation für ihn im Kern bedeute. Und das macht er seit Anbeginn. Dabei sind seine traumhaften und bis ins allerkleinste Detail gezeichneten Filme voller großer Themen. Das Verhältnis des Menschen zur Natur und deren Zerstörung, Technik und Krieg sind wiederkehrende Komplexe, die Miyazaki in seinen Filmen aufarbeitet. Dabei sind seine Protagonist:innen meist Kinder, oft Mädchen oder junge Frauen. Seine kindlichen Charaktere sind den Erwachsenen moralisch und intellektuell überlegen, können dadurch auch mehr wahrnehmen. Sie entdecken Zauberwelten, die für die abgestumpften Großen unsichtbar bleiben. Wenn jemand die Fähigkeit hat, die Welt zu retten, dann sind sie das. Die Erwachsenen hingegen stehen oft für Gier, Zwietracht und Zerstörung.

Der japanische Originaltitel des Films bedeutet übersetzt „Wie lebt ihr?“ und ist eine Referenz auf einen gleichnamigen japanischen Roman aus dem Jahr 1937. Im Zentrum des Films steht ein junger Bursche, der zwölfjährige Mahito, der den Flammen des Pazifikkrieges 1943 entkommen kann, dabei aber seine Mutter verliert. Sie stirbt bei einem Feuer in einem Krankenhaus.

Mahitos Vater lernen wir nur am Rande kennen. Der besitzt eine Munitionsfabrik für die Luftwaffe - eine Anspielung auf Miyazakis Begeisterung für die Luftfahrt, die er, der Sohn eines Flugzeugunternehmers, schon oft in sein Werk einfließen hat lassen. Etwa im Film „Porco Rosso“, der von einem Kampfpiloten im Körper eines Schweins handelt, der gegen die italienischen Faschisten anfliegt (Zitat: „Lieber ein Schwein als ein Faschischt“). Oder in Miyazakis letztem Film „Wie der Wind sich hebt“, in dem der junge Protagonist vom Fliegen träumt und schließlich Flugzeugkonstrukteur wird.

The Boy and the Heron

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Kurz nach dem Unglück heiratet Mahitos Vater die kleine Schwester seiner Frau, Natsuko. Mahito bringt er aufs Land zu ihr, wo sie gemeinsam mit einigen alten Haushälterinnen lebt und Mahito fortan aufziehen soll. Aber Mahito findet nur schwer und unter Widerwillen in sein neues Leben. Er wird regelmäßig von den Bildern der Flammen und seiner sterbenden Mutter heimgesucht. In der neuen Schule wird er zum Außenseiter und gerät bald in seine erste Schlägerei.

Ein magischer Turm, sein Herrscher und Messer wetzende Riesensittiche

Dabei soll es nicht bleiben. Die Begegnung mit einem mysteriösen grauen Reiher bereitet Mahito zusätzlich Sorgen. Der komische Vogel scheint ihn zu verfolgen, schließlich auch zu attackieren. Aber mit dem Reiher stimmt etwas nicht. Es handelt sich um ein magisches Wesen, das bald gar nicht mehr so grazil anmutet wie im ersten Augenblick. Und als Natsuko eines Tages plötzlich verschwindet und die Haushälterinnen überall nach ihr suchen, führt der vermeintliche Reiher Mahito tief in den Wald hinein, wo er einen versteckten Pfad und bald einen geheimnisvollen Turm entdeckt. Miyazaki-Kenner:innen werden an dieser Stelle schon vermuten, dass das erst der Anfang einer Reise in eine fremde, zauberhafte Welt ist, deren Portal das Tor des Turmes darstellt.

Kaum in der neuen Welt angekommen, macht Mahito Bekanntschaft mit einem geheimnisvollen alten Mann, der sich bald als Mahitos verschwundener Großonkel entpuppt. Er ist der Herrscher der fantastischen Welt innerhalb des Turms, umgeben von einer Armee gigantischer, Messer wetzender Sittiche mit Appetit auf Menschenfleisch. In den Wirren dieses unheimlichen Paralleluniversums trifft Mahito auch auf seine Mutter und Natsuko und wird bald erfahren, dass der Ort kurz vor seiner Auslöschung steht und Mahitos Handeln gefragt ist.

The Boy and the Heron

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Hayao Miyazakis „The Boy and the Heron“ ist wunderschön animiert und begleitet von der fantastischen Musik Joe Hisaishis, der auch schon für Miyazakis frühere Filme für den Soundtrack verantwortlich gezeichnet hat. Die Geschichte, die Miyazaki hier erzählt, ist die Coming-of-Age-Geschichte eines Burschen, der sich nach dem Verlust seiner Mutter in einer neuen Umgebung zurechtfinden muss. Im zweiten Teil des Films wird Miyazaki dann abstrakter und verschlüsselter denn je, aber auch entfesselter in seiner visuellen Umsetzung. Es geht schließlich weniger darum, die Handlung geradlinig voranzutreiben, als das komplexe Innenleben eines verwirrten Teenagers zu verbildlichen, der aufgrund des Todes seiner Mutter sehr früh lernen muss, mit Schmerz und Verlust umzugehen und Verantwortung zu übernehmen.

Die Frage „Wie lebt ihr?“ hängt dabei in ihrer ganzen philosophischen Schwere über dem irrigen, kunterbunten Treiben zwischen Menschen, Tieren und Fabelwesen und unterstreicht Miyazakis geübtes Händchen für das Tiefsinnige, das Wesentliche, das alle Sinne Erfassende. Mit „The Boy and the Heron“ ist ihm einmal öfter ein Meisterwerk gelungen, das rührt und noch mehr erstaunt und dabei großen Spaß macht. Und das wieder einmal hoffen lässt, dass es vielleicht doch nicht Hayao Miyazakis letzter Film gewesen sein wird.

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