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Randy Newman

Reprise Records

ROBERT ROTIFER

Jetzt bin ich schon so weit

Über performative Missverständnisse und was der Verlust des antirassistischen/anti-bigotten Grundkonsenses für Kunst und Zusammenleben bedeutet - anhand der anhaltenden Nahost-Krise, Naomi Kleins jüngstem Buch und Randy Newmans Achtziger.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Dieser Text ist jetzt schon mein dritter darüber, was der laufende Konflikt im Nahen Osten mit uns macht, nach dem abstrakten ersten Text Mitte Oktober, und dem konkreten zweiten Text Anfang November. Er schließt an die beiden anderen an und bezieht alles bisher Gesagte als gesagt mit ein.

Ein Satz, den ich in diesem seither vergangenen Monat immer öfter gelesen habe, ist: „Jetzt bin ich schon so weit, dass ich sage“ bzw. “It’s got to the point where I’m saying...“, stets gefolgt von Variationen desselben Themas: „einfach alle abschieben“, „all racists“, „all antisemites“, „alle nach Gaza schicken“, „alle einsperren“, „alle blockieren“, „allen entfolgen“, und was auch immer ihr da jetzt reingelesen haben werdet: Diese Sätze kommen aus allen Richtungen bei mir an. Nehme an, das spricht für meine Timeline, immerhin lebe ich offenbar nicht in einer Echokammer, aber Trost ist das auch keiner.

Der Kern dieser Aussagen liegt nämlich bereits in ihrem ersten Satz, dem „Schon-so-weit“-Sein. Es ist wahr, wir sind alle schon sehr weit auf diesem Weg, manche noch weiter als andere, viele von uns in jeweils entgegengesetzte Richtungen, aber alle in einer Sackgasse.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

In meiner letzten Kolumne hatte ich mich ja noch anhand eines selbst erlebten Beispiels über die gefährliche Domino-Logik im Gebrauch von Antisemitismus- und Rassismusvorwürfen beklagt, doch die „Jetzt bin ich schon so weit“-Kommentare bemühen sich nicht einmal mehr darum. Ihnen reicht schon der Grad der Erhitzung des eigenen Gemüts zur Legitimierung ihrer Schlussfolgerung. Ohne sich zu fragen, wie viel an dieser Erhitzung auf den eigenen, dem bei uns allen schnell ins Suchthafte überschlagenden Kontakt mit diversen, algorithmisch assistierten Erhitzungsmaschinen zuzuschreiben ist. Muss ja nicht das Internet, können auch altmodische Zeitungen sein, deren völlig außer Rand und Band geratene Rhetorik neuerdings mit jener der sozialen Medien konkurriert. Und das tut sie in ihrer Online-Version ja schließlich auch buchstäblich im Kampf um die Klicks.

„Wenn das wahr ist...“

Denn eines muss man bei allem überheblichen Warnen meiner Branche vor den Tücken des Pseudo- oder Amateurjournalismus, der gefakete oder mutwillig in falschen Kontext gesetzte Videos, manipulierte Fotos und editierte Screenshots verbreitet, schon beschämt sagen: Was dieser Tage unter in altehrwürdiger Fraktur gesetzten Traditionsmedientiteln an semi-recherchiertem, tendenziösem und diffamierendem Bullshit in die Welt gesetzt wird, hat einen erheblichen Anteil an der brandgefährlichen Befütterung des Polarisierungs-Biests.

Früher, in naiveren Zeiten, hätte ich internetkritisch gesagt, das Problem sei die Annahme, Leute, deren Job das nicht ist, könnten auf journalistische Weise zwischen vertrauenswürdigem Inhalt und manipulativer Propaganda unterscheiden. Heute dagegen sehe ich professionelle Journalist:innen unverifizierte Narrative unter semi-distanzierten Qualifizierungen wie „Wenn das wahr ist...“ an ihre Follower:innen weiterleiten.

Eine Faustregel, quasi der umgekehrte Occam’s razor: Wenn etwas so unglaublich ist, dass man sich fragt, ob es wahr sein kann (zum Beispiel „crisis actors“), kann man es ja auch einmal mit Vorbehalt registrieren, ohne es weiterzuverbreiten. Der Kudos, den man dafür erhält, in der eigenen Bubble als erstes das jeweils gerade Allerärgste gehört zu haben, ist weniger groß als die Scham, unwissend anderer Leute Lügen zu verbreiten. Oder sollte es zumindest sein.

Ich muss aber auch zugeben, selbst von einem deutschen Kollegen ertappt worden zu sein, wie ich in meiner letzten Kolumne – vertrauend darauf, was ich damals, zu Beginn des Konflikts, in britischen Medien ständig gehört oder gelesen hatte - schrieb, der Gaza-Streifen sei das dichtest besiedelte Gebiet der Erde. Das musste ich, da es statistisch offenbar nicht stimmt, nachträglich in „eines der dichtest besiedelten Gebiete“ umformulieren. Wer auch über diese Formulierung noch streiten will, die:den müsste ich allerdings fragen, was sie:er damit, angesichts mehr als einer Million aus ihren großteils nicht mehr existierenden Häusern vertriebener Menschen, eigentlich beweisen will.

Und doch hat mich diese verhältnismäßig kleine Korrektur eben noch ein Stückchen vorsichtiger im Annehmen weit verbreiteter, scheinbar sicherer „Fakten“ gemacht. Selbst wenn mein Kontext nicht die weitere Nährung des Empörungs-Monsters war, sondern bereits dessen Kritik.

Wenn etwas so unglaublich ist, dass man sich fragt, ob es wahr sein kann, kann man es ja auch einmal mit Vorbehalt registrieren, ohne es weiterzuverbreiten.

Das zunehmende „Schon so weit“-Sein jedenfalls ist, wie wir alle eigentlich wissen, der Sinn dieser monströsen Maschine bzw. falls das Wort „Sinn“ hier zu hoch greifen sollte, zumindest die Funktionsweise ihres Magnetismus.

Das Beste an den „Jetzt bin ich schon so weit“-Sätzen wiederum ist, dass sie immerhin ehrlich sind, im Gegensatz zu jenen, denen man einer treffenden englischen Wendung nach zu Recht „bad faith“, also schlechte Absicht unterstellen würde.

Gebe zu, die Grenzen zwischen Paranoia und absichtlichem Uminterpretieren sind fließend, aber der Unterschied letztlich akademisch, denn das Ergebnis ist zumeist dasselbe.

Pauschalaussagen im Selbsttest

Ich weiß zum Beispiel nicht, welcher jener beiden Gedankengänge am Werk war, das eine Mal neulich, als ich auf X-Twitter auf die Tatsache, dass 45 Prozent der 25- bis 44-jährigen in Wien nicht wahlberechtigt sind, mit meinen eigenen Beobachtungen als Nicht-Wahlberechtigter im UK einging.

Ich schrieb bloß ein paar Sätze darüber, wie das Ausschließen Eingewanderter vom demokratischen Prozess sich doppelt rächt: In der Dissoziation der Ausgeschlossenen vom Land, wo sie wohnen. Und darin, wie die Politik jenes Landes davon logisch motiviert wird, den Vorurteilen und Ängsten der wahlberechtigten Mehrheitsbevölkerung zuzuarbeiten.

Ein mir nicht bekannter Mann fand von meiner Diagnose dieses fatalen demokratischen Defizits zielgerichtet zur Feststellung, dass das aus „gutem Grund“ so sei, schließlich seien „die Mohammedaner“ (sic!) das Problem, „weltweit“.

Da man Pauschalaussagen dieser Art heutzutage aus den erstaunlichsten Quellen liest, aus diesem Anlass noch eine scheinbar vergessene Faustregel: Wenn man einer ganzen Gruppe (Muslime, Jüd:innen, Palästinenser:innen, Israelis, Migrant:innen, deren Nachkommen, Ethnien, siehe auch „die Deutschen“) kollektiv etwas nachsagt, dann ist das rassistisch oder, wenn euch das Wort lieber ist, bigott, in jedem Fall aber nicht okay.

Mir schon klar, dass meine Belehrung hier ein Echo von #notallmen-Relativierungen in sich trägt bzw. dieses performative Über-einen-Kamm-Scheren in den identitätspolitischen Debatten der letzten anderthalb Jahrzehnte teils als quasi-ironisch, teils durch hierarchische Unterlegenheit legitimiert und normalisiert wurde. Aber vielleicht war auch das in Wahrheit ja schon eine ganz schlechte Idee.

Ein guter, alter Selbsttest, zumindest unter Nicht-Psychopath:innen bleibt, sich zu fragen, ob man das, was man da pauschal behauptet, einem Mitglied einer jener Gruppen auch so ins Gesicht sagen würde, und zwar unabhängig davon, wie groß oder stark das Mitglied jener Gruppe ist.

Bei oben erwähnter Gelegenheit sah ich mich jedenfalls gezwungen, die von dem Menschen mit dem weltweiten „Mohammedaner“-Problem getane rassistische Äußerung als solche zu benennen und fügte hinzu: „Would have been a different target in the old days, and we all know how that turned out...“ („Früher einmal hätte solcher Rassismus ein anderes Ziel gehabt, und wir wissen alle, wie das geendet hat...“) Als jener mir postwendend vorwarf, ich setze „verhätschelte Moslems (sic!) ernsthaft mit vergasten Juden“ gleich, spürte ich zugegebenermaßen dieses gewisse Beben in mir.

Bringt mich gleich zu noch einer handlichen Regel, weil’s so ein gutes Beispiel für was ebenso ständig Anzutreffendes ist: man kann einander allerhand vorwerfen (das hatte ich schließlich auch getan), aber nein: anderen der Eskalation zuliebe freihändig Aussagen über die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzudichten, ist auch nie in Ordnung. Schon überhaupt, wenn man nicht weiß, mit wem man spricht, und was diese:r persönlich damit an eigener Geschichte assoziiert (siehe zur Erklärung meine oben verlinkte letzte Kolumne).

Aber ja, meine Lektion daraus: Du interagierst mit der Erhitzungsmaschine und schon bist du so weit, dass du schon so weit bist, dass du was sagst. Nur damit dir nicht der Kragen platzt.

Meistens aber sehe ich einfach Menschen, die im Verteilen ihrer Empathie hoffnungslos parteiisch sind.

Meine rechtsextreme Facebook-Timeline

Wie es sich ergab, gewann an dem Abend, als diese stereotype Online-“Konversation“ ihr unvermeidliches Trudeln in Richtung Konfrontation vollzog, in den Niederlanden der rechtsextrem-islamophobe Geert Wilders die Wahlen. Eine hervorragende Analyse aus dem Jahr 2013 über die zutiefst antisemitischen Ursprünge von Wilders’ „selektivem Philosemitismus“ findet sich übrigens auf der Website des Jüdischen Museums Berlin. Wilders ist ein typisches Beispiel für die falschen Freund:innen, die beide Seiten des Konflikts zum eigenen Nutzen derzeit so eifrig befeuern.

Dabei klingen die Dinge, die Wilders über den Islam sagt, verblüffend ähnlich wie vieles, das ich dieser Tage auf meiner Facebook-Timeline lese und grundsätzlich nie kommentiere, um erwähntes Polarisierungs-Biest nicht noch zu füttern. (Dass eine:r jemand anderen in einer dieser Debatten von etwas überzeugt, habe ich ehrlich gesagt noch nie erlebt. Nebenbei: Ich weiß schon, wie die Umkehr-Argumentation dazu geht: Leute wie Wilders hätten Erfolg, weil sie aussprechen, was „die Linke“ nicht sehen will, aber die niederländischen Wahlen waren offenbar ein Musterbeispiel dafür, dass es am Ende nur den Rechtspopulist:innen nützt, wenn man ihnen nach dem Mund redet).

Und weil es für alles immer ein Gegenbeispiel gibt: Ein britischer Musikerkollege, der sich als links versteht, postet nun schon seit Wochen Zeug über Israel, das nach meinem Empfinden bedenklich weit über Kritik an der Regierung oder Kriegsführung des Landes hinaus geht. Auch ihm sehe ich besorgt beim Driften zu.

Ich sehe auch einen wie Owen Jones nach einem in London abgehaltenen IDF-Screening einen langen Youtube-Post absondern, der zwar gegen Ende zu den richtigen Worten findet, aber auf dem Weg dorthin in seiner ausgedehnten Schilderung des Gesehenens samt skeptischen Beisätzen, das Grauen mit erschreckender Kälte und Teilnahmslosigkeit katalogisiert. Ich sehe umgekehrt Leute, die Jones daraufhin unterstellen, Hamas-Verbrechen geleugnet zu haben (hat er definitiv nicht). Ich sehe auch linke, meist britische oder amerikanische Leute, viele von ihnen Jüd:innen, die aus Solidaritätsprinzip pro-palästinensische Standpunkte eingenommen haben und sich diesen Standpunkten zuliebe alles, aber auch wirklich alles zurechterklären, was sie sonst auf der „eigenen“ Seite als Antisemitismus erkennen müssten.

Meistens aber sehe ich einfach Menschen, die im Verteilen ihrer Empathie so hoffnungslos parteiisch sind, dass sie das unbestreitbare Leid der jeweils anderen Seite nicht nur nicht wahrnehmen, sondern gar abstreiten, oder schlimmstenfalls veräppeln. Wer sich dabei erwischt, sollte wirklich ein paar Runden um den Häuserblock gehen.

Naomi Kleins konkret gewordene Mirror World

Naomi Klein

Penguin Books Ltd

Naomi Klein „Doppelganger“, erschienen bei Penguin Books.

Aber nein, das hier ist nicht wieder bloß ein ungefragter Ratschlag zur Benützung des Internets, der so tut als ginge es hier auch bloß wieder um unsere eigene Befindlichkeit. Die Dinge, die wir hier lesen, sind greifbar und konkret Teil unserer Gesellschaft, siehe die viral verbreitete Sitzung des Oakland City Council. Da sieht man Abgeordnete leidenschaftlich das Hamas-Massaker leugnen und dessen bloße Erwähnung in einer Resolution als „anti-arabischen Rassismus“ anprangern. Und man ahnt, wo sie ihre Weisheiten herhaben.

Der inflationären Entwertung und dem Missbrauch solch traditionell linken Vokabulars steht dessen strategische Aneignung auf der Rechten gegenüber. Deren Polemiker:innen nehmen diese moralmächtigen, klingenden Wörter der Empörung ins Interieur ihrer „Mirror World“ auf, wie sie Naomi Klein diese Parallelwelt in ihrem sehr erhellenden jüngsten Buch „Doppelganger“ beschreibt (das ich übrigens diesen Samstag im Ö1 Diagonal besprechen werde).

Ausgehend von ihrem persönlichen Problem, beharrlich mit der tief ins rechtsextreme bzw. diagonalistische Lager der Verschwörungstheoretiker:innen abgedrifteten Ex-Vorzeige-Feministin Naomi Wolf verwechselt zu werden, formuliert Klein dabei neben klugen Thesen zur verwirrten Welt des nie ganz verdauten, kollektiven Lockdown-Traumas auch ein paar Sätze zum Raub und der Verdrehung diskursiv wichtiger Wörter, die mich beim Lesen geradezu wehmütig gestimmt haben:

„Es gibt eines, das wir nie aufgeben dürfen, und das ist die Sprache des Antifaschismus“, schreibt Klein, „Die wahren Bedeutungen von ‚Genozid‘ und ‚Apartheid‘ und ‚Holocaust‘, und dem suprematistischen Geist, der sie alle möglich macht. Das sind Wörter, die wir brauchen, so scharf wie möglich, um zu benennen und zu bekämpfen, was in der Mirror World rapide Form annimmt.“

Die Erfindung des Genozid

Das Tragische daran ist freilich, dass genau die drei erwähnten Wörter in den Verbal-Abtauschen der letzten Wochen massive Beschädigungen erlitten haben. Vor allem beim endlosen Streit um den Gebrauch des Wortes „Genozid“ musste ich dabei immer wieder an Philippe Sands’ bemerkenswertes Buch „East West Street“ denken (2016, zu deutsch „Rückkehr nach Lemberg“, ich hab’s hier in den letzten paar Jahren schon mehrmals erwähnt), in dem die Geschichte zweier im heutigen Lviv aufgewachsener und vor den Nazis nach Großbritannien bzw. in die USA geflohener jüdischer Juristen erzählt wird, deren Arbeit die Rechtsprechung der Nürnberger Prozesse prägte: Hersch Lauterpacht, der Erfinder des Ausdrucks „Crime Against Humanity“ (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und Raphael Lemkin, der Erfinder des Wortes „Genocide“ (Genozid).

Von Anfang an standen diese beiden Begriffe in einer unangenehmen Konkurrenz zueinander und ich erinnere mich nur zu gut daran, wie ich beim Lesen von Sands’ Buch zum Team Lauterpacht tendierte, schließlich zentriert das Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Gleichheit aller Menschen im Sinn ihres gleichen Rechts auf ein möglichst freies, würdiges, durch physische Gewalt unbeschädigtes Leben. Die Definition eines Genozids, also Völkermords, dagegen ist, wie der derzeitige Konflikt so deutlich zeigt, nicht nur immer subjektiv standortabhängig und bestreitbar, sondern bedingt auch die Definition der davon betroffenen Gruppe bzw. des „Volks“.

Und so geraten wir dann ins essentialistische Fahrwasser der besonders schlauen Ethnien-Threads, die beweisen wollen, welches Volk jeweils aus den letzten paar Jahrzehnten bis Jahrtausenden Anspruch auf welchen Strich Land erheben darf.

Abgesehen davon, dass ich dieselben Leute gerne dabei erleben würde, wie sie nach denselben Mustern den jeweiligen Mythos ihres europäischen Nationalstaats begründen (oder vielleicht doch lieber nicht), ist das, was mich beim ungläubigen Lesen ihrer mit Online-Historiker:innen-Stolz verbreiteten Wissensperlen am meisten schockiert, meine eigene, gerade dadurch offenbarte Naivität. Ich Depp hatte doch gedacht, wir hätten all dieses ethnonationalistische Geschwätz schon lange hinter uns gebracht.

Ich brauche jetzt wohl gar nicht mit Aufklärung und Universalismus aufzufahren, denn so alt sind ja nicht einmal die Generationsgenoss:innen auf meiner Facebook-Timeline, dass ich nicht auch einfach den internationalistischen Grundkonsens der Popkultur bemühen könnte.
Ehrlich, Leute, haben wir den schon völlig vergessen?

Randy Newman und der gescheiterte Konsens der Popkultur

Erinnern wir uns noch an das Selbstverständliche? An diesen Butter- und Brot-Antirassismus, der einmal so peinlich banal war? Die Sorte U2-Antirassismus mein ich: „One love, one blood“ und so: „One life with each other / Sisters, brothers / One life but we’re not the same / We get to carry each other, carry each other / One.“

Stimmt, diese Art von Pop-Universalismus war immer schon verbunden mit hochproblematisch herrschaftlichen Live Aid-Gönnergesten, aber die Essenz, die uns vor den schlimmsten Dummheiten voriger Generationen zu immunisieren schien, war so tief verwurzelt, vom gejauchzten „Everybody!“ in jedem Disco-Song bis zum Dancing in the Street everywhere around the world, dass ich nicht gedacht hätte, wir könnten sie so schnell wieder verlieren.

Optimistisch denke ich ja, diese Grundbotschaft existiert noch immer als eine Art verdrängte muscle memory in den Tanzbeinen. Fest steht jedenfalls, dass niemand sich als Teil jener universalistischen Popkultur verstehen und gleichzeitig in irgendeine Richtung ethnonationalistischen Hass posten kann. Da sind die Regeln eigentlich ganz streng, selbst wenn’s keine Polizei dafür gibt. Es reichte einfach gesehen zu werden, so sollte das zumindest immer gehen in der Popkultur. Oder vielleicht war dieser Glaube an die progressive Natur des Pop ganz genauso verfehlt wie, sagen wir, die Idee, dass eine freie Wirtschaft notwendigerweise eine freie Gesellschaft hervorbringt.

Shit.

Randy Newman

Reprise Records

Randy Newman, 1968

And finally:

Randy Newman wurde vorgestern 80. Einer der größten, oft auf bösartigste Weise zutiefst humanen Singer-Songwriter, die je das Glück hatten, ihre Lieder in einer Zeit zu veröffentlichen, als es noch die Bereitschaft gab eine Stimme als unzuverlässige:n Erzähler:in zu hören.

Zu verstehen, dass einer, der 1974 auf dem Album „Good Old Boys“ einen Song wie „Rednecks“ sang (ihr könnt den Text googlen, aber man sollte ihn nicht lesen, ohne Newman vorher singen gehört zu haben) den Rassismus, den er aus Täter-Perspektive beschreibt, sichtbar machte, ohne ihn explizit zu verurteilen.

Newman stellt das eigentlich schon in der zweiten Zeile klar, indem er als Jude aus der Perspektive seines Ich-Erzählers einen Fernsehinterviewer als „some smart-ass New York Jew“ bezeichnet. Das und gerade die Verwendung des N-Worts im Refrain („We’re rednecks / We can’t tell our ass from a hole in the ground / We’re keeping the nxxxxxs down“) zeigen eindeutig genug, so glaubte zumindest Newman, was er von der Weltsicht seines Rednecks hielt.

Und zwar gleichzeitig mit einer ebenfalls im Song zum Ausdruck kommenden Empathie für den:die fehlgeleiteten, dümmlichen Rassist:in und Antisemit:in. Einer Empathie, die ihn von einer bloßen Karikatur zum Menschen und so das Monströse in seinen Ansichten erst wirklich fühlbar macht. (Wann immer ich Trump im Kreis seiner Anhänger:innen sehe, muss ich an die Zeile „Well he may be a fool but he’s our fool“ aus „Rednecks“ denken.)

Es scheint, dass Newman in seinen Annahmen über sein Publikum irrte. Das legte jedenfalls bloß drei Jahre später die Reaktion auf seinen Song „Short People“ nahe, eine satirische Parabel auf Bigotterie, die das Pech hatte, zum Hit zu werden, so einen über die in Newmans Humor initiierten hinausgehenden Kreis von Hörer:innen zu erreichen und von jenen prompt als tatsächliche Attacke auf kleine Menschen gedeutet wurde.

Newmans Satire hatte einen antirassistischen/antibigotten Popkultur-Konsens vorausgesetzt, den es so offenbar gar nie gegeben hatte. Und eine Fähigkeit zur Unterscheidung von Autor und Erzähler, die wir seither in Jahrzehnten der „authentischen“ Keeping it real-Rhetorik verloren haben.

Vor allem aber, um endlich den weiter oben geöffneten Bogen zu schließen: Ein Mindestmaß an good faith, an ehrlicher Bereitschaft, einen Song zu hören ohne ihn dabei nach Möglichkeiten des Missverständnisses abzutasten.

Randy Newman ist also 80, aber der Randy Newman, der er mit 30 war, könnte heute keine Platten mehr machen (bitte jetzt nicht mit Father John Misty als Gegenbeispiel kommen, der verwendet dasselbe Werkzeug, aber ohne damit je eine neue Erkenntnis herzustellen). Unschwer auszumalen, was die Bad Faith-Meinungsmaschine der sozialen Medien heute aus Newmans Songs von damals machen würde. Unbestreitbar auch, dass „Rednecks“ - glücklicherweise kein Hit, sondern nur ein Album-Track – heute von allen Seiten her (in diesem Fall Juden:Jüdinnen, Schwarzen, Rednecks und Menschen, die sich mit ihnen solidarisieren) als vollkommen unerträglich empfunden würde.

Auch wieder gut und richtig, könnte man einwenden, Sarkasmus off forever, der hat eh längst genervt.

Aber der aufgeklärte Verzicht auf die Annahme jedes antirassistischen/antibigotten/good faith-Konsens hat auch seine Schlagseite. Denn während wissender Sarkasmus diesen Konsens implizit bestätigt, verunmöglicht dessen Bruch nicht nur den Sarkasmus, sondern in durchgedachter Konsequenz auch jede Kunst und am Ende jedes erträgliche Zusammenleben.

Und damit komme ich zurück zu U2, und einem Zitat von Randy Newman aus einem Interview mit dem Magazin Q im Jahr 1988, als er sagte: „Wissen Sie, ich war immer gegen den Weltfrieden gewesen. Aber dann setzte sich Bono dafür ein und die Schuppen fielen von meinen Augen.“ Das ist zwar immer noch sehr witzig (Dank an meinen Freund Andy Miller, falls er das liest, für die Erinnerung!), aus heutiger Sicht aber auch ein Luxus-Scherz, den man so nicht mehr machen würde. So weit sind wir tatsächlich schon.

In diesem Sinne, das ist zum Abschluss mein superkontroverser X-Tweet aus dem eingangs beschriebenen Genre: „Jetzt bin ich schon so weit, dass ich sag, ‚One‘ von U2, remember that... vielleicht doch kein so blöder Song.“

Aktuell: