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Zitronen

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Buch

Gewaltig bittere Zitronen von Valerie Fritsch

In ihrem vierten Roman „Zitronen“ schaut die österreichische Autorin Valerie Fritsch in Abgründe. Dorthin, wo es weh tut. Denn mit Schmerzen, Gewalt und Misshandlungen ist ihr Protagonist August Drach groß geworden. Ein bitteres Leben, in dem Zitronen immer wieder eine Rolle spielen.

Von Zita Bereuter

Selten spiegelt ein Cover so gut den Inhalt wider. Sieben gelbe Scherben bilden die Form einer Zitrone nach. In sieben Kapitel teilt sich auch der Roman. So viel ist klar: die Scherben lassen sich nicht zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen. Die Scherben bringen kein Glück. Es ist Gewalt im Spiel, es ist was zerbrochen, es kann sich wer schneiden.

Buchcover Zitronen

Suhrkamp

„Zitronen“ von Valerie Fritsch ist bei Suhrkamp erschienen.

Zitronen wachsen im Gewächshaus der Mutter, Lilly Drach. Bei dem Namen „Drach“ an einen Drachen und die Verkörperung des Teufels zu denken, liegt nahe. Vater Drach ist gewalttätig und misshandelt seinen Sohn August regelmäßig. Der Vater rührte keinen Finger, aber erhob oft die Hand. Mutter Lilly beschützt ihren Sohn nicht, sondern schaut bewusst weg. Die Mutter sagte kein Wort gegen den Vater, stellte sich seinem Wüten nie entgegen, schaute lethargisch in sich selbst hinein, aber eilte, kaum war es vorbei, geschäftig und mit roten Wangen zu August, um ihn mit Zärtlichkeiten zu überschütten. August hat vor dem Vater resigniert. Mehr als August ihn fürchtete, schämte er sich für ihn und auch für sich selbst.

Die Drachs leben in einem kleinen Dorf, in dem sich alle kennen, einander ständig beobachten, aber doch wegschauen. So sieht es auch niemand, als ein Mädchen spurlos verschwindet. Vor das Haus des vermissten Kindes legt man Kuchen – unter anderem Zitronentörtchen.

Von Zitronentörtchen...

Eines Tages ist auch Augusts Vater weg. Spurlos. Sowohl Lilly als auch August sind erleichtert. Allerdings kann Lilly ihren Sohn nach Misshandlungen nun nicht mehr trösten - August meidet die mütterlichen Zärtlichkeiten. Erst als er zufällig krank wird, kann sich Lilly wieder ganz um August kümmern. Sie, die vor Jahren als Krankenpflegerin gearbeitet hat, erkennt schnell, dass sie ihre Mutterrolle nur an einem kranken Sohn ausspielen kann. Kaum war er krank, konnte sie die Finger nicht von ihm lassen, wärmte sich an seinem Fieber ihre kalten Hände, bemutterte ihn, übermutterte ihn, und August bemerkte es in seinem Delirium kaum, sah bloß die rotgeschürzten Lippen über sich schweben im Augenwinkel.

*Das Münchhausen-Stellvertretersyndrom ist u.a. durch den Fall von „Gypsy Rose“ bekannt geworden – verfilmt in der Netflix-Serie „The Act“.

Münchhausen-Stellvertretersyndrom* ist der Fachausdruck, wenn man bei Leuten (häufig beim eigenen Kind), absichtlich Krankheiten hervorruft, damit man diese Kranken dann pflegen und an sich binden kann. Lilly ist diesbezüglich einfallsreich. Hin und wieder wurden ihm auch die roten Köpfe der Streichhölzer in den Mund gesteckt, an denen er lutschen sollte, da der Schwefel ein altes Hausmittel gegen Schwäche sei.

...zu Zitronen als Hoffnungsträgern

Immer wieder zeigen sich Zitronen als Hoffnungsträger. August träumt von Zitronen, sieht Zitronen am Nachthimmel, erfindet Zitronen selbst in seiner Biographie.

„Ich mag die Ästhetik des Zerfalls“, sagte die damals 21-jährige Valerie Fritsch in einem Interview, als sie 2010 bei Wortlaut, dem FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb, den 3. Platz gewonnen hatte.

Seither sind vier Romane erschienen: „Die VerkörperungEN“
„Winters Garten"
„Herzklappen von Johnson & Johnson“
und "Zitronen“.

Außerdem wurde Valerie Fritsch mehrfach ausgezeichnet, u.a. beim Wettlesen um den Bachmannpreis 2015 mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis oder 2020 mit dem Brüder-Grimm-Preis für Literatur.

Valerie Fritsch lebt in Graz und Wien.

Dass sein Leben so bitter ist, liegt jedenfalls kaum an den Zitronen. Valerie Fritsch schaut nicht nur in menschliche Abgründe, sondern gräbt dort die Erde um und findet Scham, Schuld, Selbsthass. Minderwertigkeit, Missgunst und Misshandlungen. Ihr Blick verharrt dort, wo es weh tut. Haneke lässt grüßen.
Konnte in ihrem vorigen Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“ das Kind keine Schmerzen fühlen, so leidet August umso mehr. Ihn durchzucken Schmerzen nicht nur wie Blitze, er wird auch zweimal vom Blitz getroffen. Einmal bei einem Gewitter. Ein zweites Mal vom Blitz der Erkenntnis. Die Spätfolgen von Zweiterem dürften schlimmer sein.

Als ausgebildete Fotografin hat Valerie Fritsch ein gutes Gespür für Bilder, die sie mit präziser und teilweise poetischer Sprache formuliert. Wer bei „Zitronen“ auf ein süßes Ende hofft, hat wohl noch nie in eine Zitrone gebissen. „Zitronen“ ist keine leichte Kost. Es ist gewaltig. In jedem Sinn.

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