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Gossip und ihre neues Album "Real Power"

Sony

Gossip und ihr Album „Real Power“

„Real Power“, das Comeback-Album der Dance-Punks Gossip aus Portland, stampft, schwitzt, weint und lacht sich durch 11 Songs und zeigt uns Sängerin Beth Ditto on fire. Im Juni live in Österreich.

Von Christian Lehner

Die kleine Österreich-Delegation steht etwas nervös in der Ecke. Die Interview-Termine haben sich weit nach hinten verschoben. Wie immer sind wir Ösis an das Ende eines langen Medientages geparkt worden. Also hängen wir rum, inmitten von Hochglanz-Büroplätzen im Hochglanz-HQ der Plattenfirma in Berlin.

Plötzlich geht ein Raunen durch die unendlichen Weiten der Räumlichkeiten. Sie ist da! Der Tross wird am Ende eines langen Ganges sichtbar – angeführt von einem mächtigen Fahnenträger. Der Menschenzug, bestehend aus Plattenfirmenleuten, der Managerin, Stylisten und einer Visagistin, kommt näher. Endlich sieht man sie hervorglitzern in ihrem goldenen Kleid. Beth Ditto hält vor der Tür des Interview-Raumes. Sie lässt sich kurz die Wangen pudern und zeigt auf die Fahne - in Wahrheit ein gestreiftes Kleid.

Gossip und ihr neues Album "Real Power"

Cody Critcheloe

Brace Paine (E-Gitarre), Hannah Blilie (Schlagzeug) und Beth Ditto (Gesang) sind Gossip

Ich, der Radio-Typ, und die zwei Kolleg:innen vom Print staunen. Doch Beth Ditto ist sich sicher: Sie möchte in das andere Kleid schlüpfen, obwohl gar kein Fototermin ansteht. Derweilen verhandeln wir mit der österreichischen Delegationsleiterin der Plattenfirma. Die zugesagten 15 Minuten pro Interview müssen um mindestens 2 Minuten gekürzt werden, wahrscheinlich noch mehr. Es ist ein halb amüsantes, halb entwürdigendes Feilschen um Zeit. Angesichts der zusätzlichen Minute für das Umziehen steht der Delegationsleiterin der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Wieder ein paar Wimpernschläge dahin! Am Ende sind alle happy - was vor allem Beth Ditto zu verdanken ist. Mit wenigen netten Worten und Gesten sorgt sie für Ruhe im Hühnerstall.

Große Erfolge mit Dance-Punk

Die Musikerin, Aktivistin, Modedesignerin, Schauspielerin und Autorin weilt bereits seit Tagen in Berlin, um Promo für das erste Gossip-Album seit 12 Jahren zu machen. Der Kultursender ARTE hat ein Konzert aufgenommen, die Öffentlich-Rechtlichen haben ein Portrait produziert, dann darf der sogenannte „Long Lead“ ran, also das deutsche Feuilleton und die wenigen Musikmagazine, die es noch gibt, vielleicht auch ein paar Influencer:innen, am Ende das Radio und Blogs und ganz zum Schluss wir Ösis.

Gossip und ihre neues Album "Real Power"

Sony

Ich sitze endlich mit Beth Ditto und einem viel zu langen Fragenvorrat im „Clive Davis Room“, während neben uns bereits das nächste Telefoninterview vorbereitet wird. Doch alles gut. Nach wenigen Worten wird klar: Beth Ditto ist wohl immer die sweeteste, klügste und lustigste Person im Raum. Und vielleicht gerade auch deshalb die traurigste.

Die Zeit ist knapp und ich wähle die Einstiegsfrage, die mich normalerweise überhaupt nicht interessiert, die „Wie fühlst du dich knapp vor dem Release?"-Frage. Dieser denkfaule Standard bringt erwartbare Antworten, die in der Regel nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Beth Ditto aber sagt nicht „I’m so excited!“ sondern „I haven’t even thought about it!“ Noch bevor ich im Kopf das das Wort „Bullshit!“ formulieren kann, ergänzt sie mit lächelnder Überzeugung: „I don’t think about the anxiety of it. I don’t want to know ever. In interviews I also don’t want to know the questions. I just wanna go!“ Eis gebrochen. Die folgenden 09 Minuten und 23 Sekunden (inklusive Stationsansagen) werden dann noch ergiebiger und lassen tiefere Einblicke in den Entstehungsprozess des Albums und das Seelenleben von Beth Ditto zu (hier geht’s zum FM4-Interview-Podcast).

So erzählt Beth Ditto, dass die Band-Reunion von Star-Produzent Rick Rubin (Beastie Boys, Metallica, Red Hot Chili Peppers) angestoßen wurde. Rubin saß bereits bei den Aufnahmen von „Music For Men“ (2009) an den Reglern. Die Single „Heavy Cross“ schoss den damals grassierenden US-amerikanischen Dance-Punk in die Charts. Gossip waren für eine Weile globale Popstars und prägten Begriffe wie Indie-Sleaze und Indie-Disco wesentlich mit.

2016 kam das Aus. Die Geschichte der in der Alternative-Szene von Olympia, Washington und später Portland, Oregon sozialisierten Band mit Brace Paine an der E-Gitarre und Hannah Blilie an den Drums schien auserzählt. Ditto brachte ihre eigene Modelinie auf den Markt und engagierte sich noch mehr für Body-Positivity und LGTBQ+-Rechte. 2017 erschien das in Richtung Soul und Pop frisierte Soloalbum „Fake Sugar“.

Neues Album mit Rick Rubin und alten Stärken

Für den vermeintlichen Nachfolger bestellte Rick Rubin Beth Ditto in ein Studio auf Hawaii. Dort war nach wenigen Sessions klar, dass dieses Album ein Gossip-Ding werden würde. „Rick überzeugte mich, Nathan (aka „Brace Paine, Red) für einige Gitarrenparts einzuladen und bald war dann auch schon die alte Band beisammen“, so Beth Ditto. „Wir nahmen uns nicht viel vor, alles sollte einfach passieren, kein Konzept, keine Themenvorgabe, nur wir in einem Raum.“

Die Hitze auf Hawaii, die rustikalen Bedingungen im Studio („Es wurde ständig umgebaut, der Strom fiel immer wieder aus, überall flatterten Hühner herum“) trugen das ihre dazu bei, dass „Real Power“ mit einigen richtigen Knallern und ein paar zu Herzen gehenden Balladen ein gut balanciertes, durchhörbares Album geworden ist, dessen Glorie gegen Ende hin allerdings ein wenig im Sand verläuft. „Für mich war der Trip nach Hawaii nicht nur schön. Meine Ex-Frau stammt von dort, wir haben da geheiratet. Die Rückkehr an diesen Ort war auch mit viel Schmerz verbunden“, sagt Ditto.

Gossip sind am 28.6.2024 am Lido Sounds live zu sehen.

Heartbreak-Songs & Empowerment-Hymnen

Diese Seelenpein hat Beth Ditto in Songs wie „Turn The Card Slowly“ oder „Peace and Quiet“ verarbeitet. Die Tracks „Act of God“, „Give it Up For Love“ und das Titelstück „Real Power“ sind hingegen echte Gossip-Rumpler der alten Schule, die sich nicht vor Band-Klassikern wie „Standing in the Way of Control“ verstecken müssen. „Real Power“ ist eine Empowerment-Hymne im besten Sinne des frühen queeren Disco, inspiriert wurde der Song jedoch von den sozialen Unruhen, die Dittos Heimatstadt Portland im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste erfasst hatten. „I want to live in a city where people get mad enough to care and care enough to get mad“, sagt Beth Ditto dazu.

Als ich sie auf die Anfangssequenz des Musikvideos zur ersten Single „Crazy Again“ anspreche, wo sie auf einem upgefuckten Klo sitzend zu sehen ist, die Panties down, pinkelnd, traurig und sich eine Zigarette anzündend, da ist das Interview auch schon wieder vorbei. Sie sagt noch „Oh, das war die Idee von Regisseur Cody Critcheloe, der auch das Cover und das gesamte Artwork designt hat“, und schon ist die Zeit um.

„I want to live in a city where people get mad enough to care and care enough to get mad“

Am Donnerstagabend dann das Album-Release-Konzert im Lido in Kreuzberg. Die Venue ist klein. Das war der Wunsch der Band. So kann Beth Ditto die Fans in den direkt an die Bühne gerückten ersten Reihen persönlich begrüßen und Jokes anbringen: „Hey baby, I know you from this bus station 12 years ago! How are you? Are you a grandma by now?“

Der Testlauf wird von Scharm, Charisma und Schweiß zusammengehalten. Die neuen Songs sitzen noch nicht so gut, beim Titelstück greift Ditto gar zum ausgedruckten Songtext, doch das ist allen vor und auf der Bühne egal. Das halbe queere Berlin ist hier und steht Kopf zu alten Krachern und neuen Hits wie „Real Power“. Die Luftfeuchtigkeit ist mindestens so hoch wie bei den Aufnahmen auf Hawaii, Beth Ditto wedelt sich mit einem Fächer Luft zu. Kleine Ventilatoren werden auf der Bühne herumgereicht.

Ditto dirigiert abwechselnd die Band und das Publikum. Man staunt über diese Power und diese explosive und im richtigen Moment expressive Stimme, die die immer leicht auseinanderfallende Musik auffängt und in Gold verwandelt. Viel Liebe is in the air an diesem Abend in Berlin. Real Power.

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