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Boris Johnson

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Robert Rotifer

Die Verblödung Britanniens

Frieden in Nordirland? Auch langweilig. Ein starker Führer, das wär was. Das „Get on with it“-Britannien des Jahres 2018 und die gefährliche Verdummung des Diskurses um Brexit.

Von Robert Rotifer

Wir könnten stattdessen ja auch über den Schnee reden. Ich meine, es hat wirklich ordentlich was runtergehaut hier in den letzten drei, vier Tagen, und das Radio ist voll von Leuten, die sich brüsten, mit ihren Allrad-Autos ihrer ganzen Zwei-Rad-angetriebenen Nachbarschaft ausgeholfen zu haben, so als ob eine gute Tat dafür kompensieren könnte, dass sie den Rest des Jahres von hoch oben auf uns runter spucken. Das wär doch auch einmal ein Zugang zu einem Thema, das die Leute wirklich interessiert. Schließlich sind, wie ich gerade vorhin gesehen hab, die populärsten fünf von zehn Stories auf der BBC-News-Site derzeit dezidiert Schnee-bezogen.

Keine einzige handelt dagegen vom Brexit, davon will hier offenbar niemand mehr wissen, weil zuviel Gerede, zu viele Details, zu viele historische Reden, die bis zum Abend nichts mehr gelten, also wieso solltet dann erst ihr davon wissen wollen? Ihr, die ihr eh schon mehr als genug sinistren Surrealismus der politischen Art zu verdauen habt?

Ich hab mich aus genau diesen Gründen hier Brexit-mäßig schon seit einiger sehr zurückgehalten (Ist das aufgefallen? Positiv? Nein, nicht sagen...), aber bei mir ist gerade Donnerstagabend und es läuft BBC Question Time im Fernsehen, die einflussreiche Diskussions-Show vor Publikum, die dem Demagogen Nigel Farage seine wirksamste Plattform verliehen hat.

Nigel Farage

APA/AFP/SEBASTIEN BOZON

Er ist heute zum 32. Mal zu Gast (ein einsamer Rekord), macht sein übliches Ding, und die Stimmen aus dem Volk sagen es dem Podium nun schon zum zweiten oder dritten Mal rein: So kann es nicht weiter gehen. „Was wir hier brauchen, ist ein starker Führer."
Und weil "a strong leader“ nicht so derb nach Nazi, sondern bloß nach Politik- und Management-Jargon klingt, finden das auch alle gut und klatschen fest. Man soll ihnen nicht sagen, sie wüssten nicht, wofür sie gestimmt hätten. Aber man soll sie auch nicht mit Einzelheiten belästigen (wir müssten sonst zugeben, dass es eigentlich nie um „Souveränität“, sondern immer nur um die „foreigners“ ging).

Und gerade diese besorgniserregende Verblödung des öffentlichen Diskurses scheint mir dann bei aller Zurückhaltung irgendwie doch berichtenswert.
Das dachte ich mir spätestens vorvorgestern früh, als Boris Johnson zur Beschreibung der vermeintlichen Trivialität des Problems der irisch-irischen Grenze post-Brexit allen Ernstes den Vergleich mit der zwischen den Londoner Bezirken Camden und Islington anbot.

Er korrigierte sich dann gleich, es sei doch eher wie die Grenze zwischen Camden und Westminster.

Im Nachhinein ließ Johnsons Büro wissen, dass er vom Vorbild der „Congestion Charge“, also der Staugebühr im Londoner Stadtzentrum gesprochen habe, die per automatischer Nummernschild-Erkennung eingehoben wird.

Jetzt einmal abgesehen davon, dass ein Londoner Ex-Bürgermeister wissen sollte, dass die Grenze der Congestion Charge Zone nicht entlang der Boroughs verläuft, sondern sowohl Camden als auch Westminster und Islington durchkreuzt, dürfte nicht einmal dieser Außenminister so doof sein, Grenzkontrollen in einer Region, deren Konflikte entlang katholisch/protestantischer Konfessionslinien noch vor zwei Jahrzehnten mit Bomben ausgetragen wurden, mit der Administration von Staugebühren oder Autobahn-Pickerl zu verwechseln.

Oder etwa doch? Und wenn ja, macht das nur mir hier Angst?

Vielleicht sollte ich noch einmal zusammenfassen, wie wir an diesen geistigen Tiefpunkt gelangt sind:

Das letzte Mal habe ich euch hier vor drei Monaten mit dem letzten Brexit-Stand behelligt. Theresa May und Jean-Claude Juncker hatten sich gerade auf das Grundsatzpapier geeinigt, das den Weg zu den Verhandlungen über ein neues Handelsabkommen zwischen EU und Großbritannien ebnen und die Grundlage für eine Übergangsfrist nach dem technischen Austrittsdatum am 29.3.2019 liefern sollte. Ich hab mir den eigenen Artikel von damals gerade durchgelesen und muss zugeben, ich lag ziemlich daneben.

Ich hätte wissen sollen, dass die Hardcore-Brexit-Fraktion von Dezember bis zum geplanten Verhandlungsbeginn Anfang März genug Zeit haben würde, alle per Handschlag besiegelten Vereinbarungen wieder vom Tisch zu plaudern.
Ich hätte ahnen sollen, dass es nicht das Problem Nordirland sein würde, das Großbritannien dazu zwingt, sich von seiner Sturheit zu verabschieden, sondern dass am Ende Nordirland der Sturheit geopfert werden würde.
Ich war so naiv, Theresa May konstruktive Absichten und ein Mindestmaß an Treue zum vereinbarten Wortlaut zu unterstellen. Sehr naiv also.

Theresa May unter einem Slogan, aus dem schon ein paar Buchstaben herausgefallen sind

PAUL ELLIS / AFP

Im Dezember hieß dieser Wortlaut noch „full alignment“ und beschrieb Großbritanniens angestrebte Konvergenz mit dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion, um eine offene irische Grenze zu ermöglichen. Seither hat May sich vom ihre Fraktion beherrschenden Nostalgieverein Empire 2.0 zu dem Versprechen drängen lassen, Großbritannien werde nicht nur aus Binnenmarkt und der Zollunion aus-, sondern auch nicht einer Zollunion mit der EU beitreten. Aus „full alignment“ wurde die kaum dekodier- und damit noch weniger übersetzbare „ambitious managed divergence“ („ambitionierte, betreute Abweichung“?).

Gleichzeitig aber höre ich hier immer noch jeden Tag – eine tiefe Delle in meiner Küchentischplatte zeugt davon – , es sei Ziel der Regierung, mit der EU „friktionsfreien“ Handel zu treiben und besagte offene Grenze zwischen Irland und Nordirland beizubehalten. Nur fiese Festlandbewohner_innen können behaupten, dass das nicht zusammengeht.

Als die EU vorgestern mangels Einlangen konkreter britischer Vorschläge zur Verwirklichung dieser Vision ihren eigenen 119-seitigen Entwurf einer rechtsgültigen Fassung des im Dezember vereinbarten Deals vorlegte, stand da genau dasselbe drin, was in der Rohfassung auch schon zu lesen gewesen war:

Falls Großbritannien die angestrebte volle Übereinstimmung mit der europäischen Zollunion und dem Binnenmarkt nicht erfüllen sollte, bliebe als letzter logischer, wenn auch von niemand gewünschter Ausweg eine innerbritische Zollgrenze im irischen Kanal, also zwischen England/Wales/Schottland auf der einen und Nordirland/Irland auf der anderen Seite.

Aha, meldet sich die nationale Paranoia, das war also die ganze Zeit der perfide Plan gewesen! Ein ehemaliger Staatssekretär des Department for Exiting the European Union (DExEU) namens David Jones und der Abgeordnete der Democratic Unionists Ian Paisley Jr. haben es gerade noch rechtzeitig durchschaut: Die EU und Irland haben es darauf abgesehen, Nordirland zu “annektieren“.

Bemerkenswert aber längst nicht mehr überraschend, dass hier die emotional aufgeladene Sprache des Kriegs verwendet wird. Tatsächlich versammelt sich auch die britische Regierung regelmäßig zur Beratung des Verhandlungsstands in einem „Kriegskabinett“, dem wirklich so genannten „Brexit War Cabinet“, und bezeichnenderweise sitzt die – sowieso – aus England stammende Ministerin für Nordirland Karen Bradley dabei gar nicht einmal mit am Tisch.

Zwei kleine Gründe, warum das beharrliche Unterschätzen der Relevanz Nordirlands seitens der britischen Regierung so unfassbar fahrlässig ist:

1) Wie schon einmal im November hier beschrieben: Eine Zollgrenze, die nicht überwacht wird, ist erstens eine Einladung zum Schmuggel und zweitens ein Bruch genau jener WTO-Regeln, auf die die Hardcore-Brexiteers sich so gern zurückfallen lassen würden. Die von den Briten geforderte Kulanz, große Gütertransporte online abzufertigen und kleinere ungeschaut durchgehen zu lassen, dürfen weder Großbritannien selbst noch die EU üben. Sonst müsste das an allen Grenzen des Binnenmarkts so laufen.
Theresa May selbst wusste das einmal sehr gut, wie ein Video vom 21. Juni 2016, zwei Tage vor dem EU-Referendum beweist. Wörtlich sagt sie darin: „Wenn wir außerhalb der Europäischen Union wären, mit Zöllen auf unseren Exporten in die EU, dann müsste es etwas zwischen Nordirland und der Republik Irland geben, das dem Rechnung trägt. Und wenn man aus der EU austritt und sich aus der Bewegungsfreiheit ausklinkt, wie könnte man da eine offene Grenze zu einem Land haben, das in der EU ist und Bewegungsfreiheit hat?“

Ja genau, Theresa, wie könnte man? Und was hat dich seither bloß so ruiniert?

2) Vor zwanzig Jahren unterschrieben Großbritannien und Irland das Abkommen von Belfast, auch Karfreitagsabkommen genannt, und besiegelten somit formell das Zeitalter der sogenannten „troubles“, dem tausende Tote fordernden, permanenten Bürgerkrieg zwischen gegenüber dem Vereinigten Königreich loyalen Protestant_innen und die Vereinigung mit der irischen Republik anstrebenden Katholik_innen.

Noch in den Siebzigerjahren hatte die britische Armee Grenzübergänge in die Luft gesprengt, um den Waffenschmuggel nach Nordirland zu verhindern.
Nun verpflichteten sich Großbritannien und Irland dazu, die Grenze offen zu halten. Kein Mensch hätte sich damals gedacht, dass ausgerechnet ein von Margaret Thatcher (die ihren Neoliberalismus immer über ihre Euroskepsis stellte) so leidenschaftlich forciertes Projekt wie der europäische Binnenmarkt dabei zum Hindernis werden könnte.

Aber so sieht es nun aus:
Irland und mit ihm die EU will jenes Abkommen bewahren, das in Nordirland friedliche Verhältnisse etabliert hat. Und Großbritannien tut so, als gäbe es kein Problem, damit jene, die es benennen, so aussehen, als hätten sie es erfunden.

Inzwischen haben sich Brexiteers wie der ehemalige Nordirland-Minister Owen Paterson, der Europa-Abgeordnete Daniel Hannan und die Labour-Abgeordnete Kate Hoey sogar schon mit der originellen Idee zu Wort gemeldet, notfalls eben das „unhaltbare“ Karfreitagsabkommen zu „überdenken“.
Offenbar ohne die geringste Sorge darüber, wie so ein einseitiger Vertragsbruch auf der anderen, irischen Seite ankommen könnte.
Und ohne zu bedenken, was das für die Vertrauenswürdigkeit eines Landes bedeutet, das nach diesen Manövern mit der ganzen weiten Welt neue Handelsabkommen schließen will.

Während ich das hier schreibe, schleift Theresa May gerade noch an ihrer heutigen Rede, die wieder einmal ihre Vision darlegen soll und von der ich jetzt schon weiß, dass sie mich weder beruhigen noch erhellen wird (siehe oben, die Lektion vom Dezember).

Laut Titelseite des Daily Express soll darin jedenfalls ein 5-Punkte-„Ultimatum“ an die Verhandlungspartner_innen bei der EU vorkommen.

Das entspricht der einzigen bisher erkennbaren britischen Strategie des Posierens vor dem heimischen Publikum, während man gleichzeitig darauf gamblet, dass die EU, sobald einmal die Deadline kommt, alle ihre eigenen Regeln und die des Welthandels vergisst und dem unverzichtbaren Britannien das ihm von Gottes Gnaden zustehende Gratis-Freihandelsabkommen gönnt. Ganz zu schweigen von den impertinenten Ex-Kolonien.

Es stimmt schon, zu so einer Taktik und so einem Standpunkt braucht es für kontinentale, sogar französische Gemüter schier unvorstellbare Mengen an postimperialer Hybris, aber man stellt immer wieder fest: Die sind durchaus vorhanden. Was mich ganz im Gegensatz dazu, was ich vor zwei Jahren dachte nun langsam zum Schluss bringt, dass der Rest der Welt die Brit_innen dieses Drama wohl doch bis zum Ende durchspielen lassen müssen wird. Selbst wenn das hier auf meine und meinesgleichen Kosten geht.

Sonst bestätigt sich am Ende noch die Paranoia vor der Verschwörung einer internationalen Elite (nicht zufällig schoss der Daily Telegraph sich im Februar Orban-artig auf George Soros als vermeintlichen Drahtzieher ein) und das Schreien nach einem „strong leader“ wird erhört.

Ein gescheiter Mensch erinnerte mich neulich an die Szene in Monty Pythons „Holy Grail“ („Ritter der Kokosnuss“), wo eine ganze Armee mit Mistgabeln bewaffneter Bauern „Get on with it!“ schreit. Genau an diesem Punkt der Handlung ist die Brexit-Saga jetzt angelangt. Und das Killer-Kaninchen harrt bereits seiner Opfer. Wir wissen, wie die Geschichte ausgeht. König Arthur wird abgeführt.

PS: Inzwischen ist das nächste unerwartete Problem aufgetaucht. Laut der in Brexit-Sachen bestinformierten Website Politics.co.uk müsste Großbritannien eigentlich bis spätestens in vier Wochen anmelden, wenn es aus dem Europäischen Wirtschaftsraum austreten will. Die Regierung streitet das ab, meint, das wäre mit dem EU-Austritt schon erledigt. Wirklich? Und was ist dann mit der Schweiz und Norwegen? Ich vermute, wir werden noch mehr davon hören.

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