FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Polizist

Amazon Studios

Anti-Serie „Too Old To Die Young“

Regisseur Nicolas Winding Refn rebelliert gegen etablierte Sehgewohnheiten: Sein 13-stündiges Serienepos „Too Old To Die Young“ provoziert nicht nur mit Gewalt und Sex, sondern vor allem mit extremer Langsamkeit.

Von Christian Fuchs

Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, Nicolas Winding Refn schon einmal interviewt hat, weiß: Der dänische Regisseur ist ein genüsslicher Provokateur. Es macht ihm Spaß, Journalisten vor den Kopf zu stoßen. Und genau die Antworten zu liefern, die man entweder befürchtet oder gar nicht erwartet hat. Am meisten liebt es Winding Refn aber, wenn seine Filme heftige Konfrontationen auslösen. Wie sein Kollege Quentin Tarantino verpackt er brutale Gewalteskalationen in ein strenges Autorenkino-Format - aber der gebürtige Kopenhagener flirtet mehr mit der Avantgarde und nihilistischer Philosophie.

Nicolas Winding Refn

Amazon Studios

Nicolas Winding Refn

Mit dem poppigen Thriller „Drive“ katapultiert sich Nicolas Winding Refn 2011 dennoch mitten in den Mainstream. Verehrten zuvor nur eingefleischte Cinephile seine unberechenbaren Genre-Hommagen, blickt dank Ryan Goslings Rachefeldzug plötzlich die Medienöffentlichkeit auf den Skandinavier. Andere Regisseure hätten danach wohl eine kommerziellere Laufbahn eingeschlagen. Aber Winding Refn zeigt dem Ruhm den ausgestreckten Mittelfinger. Mit Filmen wie „Only God Forgives“ und „The Neon Demon“ treibt er seine spezielle Ästhetik so auf die Spitze, dass unaufgeschlossene Kinobesucher aus dem Saal flüchten.

Stillstand als verstörendes Stilmittel

Es ist nur konsequent, dass sich der Regisseur nun einer anderen Klientel herausfordernd zuwendet: den Seriensüchtigen und Bingewatch-Junkies. „Too Old Too Die Young“ heißt sein Streaming-Debüt, eine 13-stündige Reise durch den kriminellen Abgrund von Los Angeles, aufgeteilt in 10 Episoden, finanziert von Amazon.

Dass Winding Refns Beitrag zum übersättigten Serienmarkt nicht gefällig ausfallen würde, hatten sich die meisten Liebhaber seines Schaffens schon vorab gedacht. Trotzdem überrascht die formale Radikalität des Unterwelt-Epos. „Too Old To Die Young“ schockt weniger mit blutiger Härte und fatalem Sex als mit extremster Langsamkeit. Zwar setzten auch seine letzten Kinofilme schon auf ein bedächtiges Tempo. Ausgerechnet im Serienkontext geht Nicolas Winding Refn aber noch einen Schritt weiter.

Beinahe wie eingefrorene Standbilder wirken die Anfangsszenen der ersten Folge. Zwei Polizisten bedrängen eine junge Frau, einer der beiden Männer knöpft ihr Geld ab. Auch als eine vorbeihuschende Gestalt den korrupten Gesetzeshüter erschießt, ändert sich die zeitlupenhafte Geschwindigkeit nicht. Die Darsteller, allen voran Miles Teller als undurchschaubarer Undercover-Cop, schleichen wie somnambule Gestalten durch das Geschehen.

Zwei Personen, die in der Dunkelheit kaum zu erkennen sind

Amazon Studios

Nach fünf von zehn Folgen, einige davon in Spielfilmlänge, ist klar: Der Erzählrhythmus bleibt schleppend. Nicolas Winding Refn präsentiert stolz eine Anti-Serie, die den Stillstand als verstörendes Stilmittel einsetzt. Charaktere stehen sich halbe Ewigkeiten gegenüber, starren sich an. Oder halten bisweilen lange Monologe, die im Nichts verpuffen.

Das hört sich einerseits nach anstrengender Arthouse-Ambition an. Dabei gleicht andererseits der Inhalt dieser bizarren Serie einem x-beliebigen Crime-Drama aus der Hardboiled-Richtung. Detective Martin Jones alias Miles Teller wandelt mit stoischem Gesichtsausdruck zwischen diversen Welten, erfüllt Mordaufträge für einen afroamerikanischen Gangsterboss (Babs Olusanmokun), freundet sich mit einem sterbenden Vigilanten an (John Hawkes) und wirkt doch nach außen wie ein Bilderbuch-Beamter. Dass hinter den Kulissen mexikanische Kartelle die Fäden ziehen und auch eine asiatische Gang unbarmherzig mitmischt, all das kommt einem aus etlichen Filmen und Serien vertraut vor.

Straßenszene

Amazon Studios

Aber das karge Handlungsgerüst spielt im Grunde keine Rolle, es geht um die Umsetzung. Jedes noch so abgedroschene Noir-Zitat funkelt dabei dank berauschender Farbkompositionen visuell in neuem Glanz. Jedes Bild sieht wie ein Poster aus, der Electrosoundtrack des großartigen Cliff Martinez pulsiert dunkel. „Too Old To Die Young“ ist eine 13-stündige Style-Orgie, ein Fest der morbiden Schönheit.

Totale Vergletscherung und gähnende Leere

Hat Nicolas Winding Refn also den ultimativen Albtraum für alle Anhänger*innen von klassischem Timing und konventionellen Storytelling geschaffen? Es scheint so, auch die Tatsache, dass der Geldgeber Amazon Prime Video die Serie auf seiner App versteckt, sagt diesbezüglich viel aus. Und wie geht es den überzeugten Winding-Refn-Fans? Während manche von ihnen ins glückselige Schwärmen geraten, überfällt andere die Müdigkeit.

Selbst wenn man den Neondämonen des Regisseurs bisher in Gegenden gefolgt ist, in denen nur Gott vergibt, muss man „Too Old To Die Young“ nicht bedingungslos abfeiern. Denn sowohl die sehnsüchtige Romantik von „Drive“ als auch den gespenstischen Tonfall des „Neon Demon“ sucht man hier vergeblich. Das Fiebrige ist einer emotionalen Vergletscherung gewichen, die auch nicht wie bei dem naheliegenden Beispiel „True Detective“ durch aufwühlende Obsessionen aufgebrochen wird.

Vor allem aber hat „Too Old To Die Young“ im Gegensatz zur anderen langsamsten Düster-Serie der Welt, David Lynchs Geniestreich „Twin Peaks: The Return“, kein Geheimnis zu bieten. Man kann natürlich in die gefriergetrockneten Slow-motion-Szenarios alles Mögliche hineininterpretieren, sich über die aufflackernden Mystizismen freuen, die surreale Faschismus-Kritik begrüßen oder einfach nur die völlig durchgeknallten Auftritte von Schauspiel-Veteran Billy Baldwin toll finden. Die gähnende Leere hinter dem knallbunten Geschehen lässt sich nicht wegleugnen.

Szene in einem Diner

Amazon Studios

Vielleicht, denke ich nach Episode 5, geht es Winding Refn genau darum: um das Zelebrieren der Leere in einem gänzlich sinnlos gewordenen, asozialen, menschenfeindlichen Universum, in dem auch Codes und Symbole, die einst „Coolness“ markierten (zum Beispiel in Filmen wie „Drive“) nichts mehr bedeuten. Trotzdem: supere Klamotten, atemberaubende Architektur, ein Mega-Nachspann, der seinesgleichen sucht. Mal sehen, wo die ganze Reise in den finalen Folgen hinführt, ich tippe auf Destination Nirgendwo.

Diskutiere mit!

mehr TV-Serie:

Aktuell: