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Gretel und Hänsel

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FILM

„Gretel und Hänsel“: Es war einmal... ein Hipstermärchen

Märchenverfilmungen mit einem modernen Twist sind weiterhin angesagt in Hollywood. Regisseur Osgood Perkins versucht, die weltberühmte Vorlage der Brüder Grimm in einen feministisch angehauchten Horrorfilm zu verwandeln.

Von Christian Fuchs

Sorry, aber ich kann mir zum Einstieg einen etwas sarkastischen Kommentar nicht verkneifen. In der westlichen Mittelstandswelt des 21. Jahrhunderts werden privilegierte Kinder beschützt und behütet. Und das ist auch okay so. Manche übervorsichtige Eltern und vermeintlich fortschrittliche Pädagogen schirmen die lieben Kleinen aber gänzlich von der bösen Realität ab. Sie verbieten auch jegliche Auswüchse der überbordenden Fantasie, wie Märchen oder Fabeln.

Ich für meinen bescheidenen Teil kann nur sagen: Ich verdanke den schrecklich schönen Erzählungen der Brüder Grimm, von Willhelm Hauff und Hans Christian Andersen unglaublich viel. Im Grunde fast alles. Zum Beispiel auch, dass ich eben jetzt als Journalist diese Zeilen in die Tastatur tippe. Denn ohne den grundlegenden Einfluss der Märchen in jüngsten Jahren wäre ich später nie so intensiv in die dunklen Reiche von Film, Musik und Literatur gekippt, hätte ich wohl keine Bands gegründet, für Horrorfanzines geschrieben, beim Radio oder Printmedien angeklopft.

Nach vielen von mir verschlungenen Interviews mit Regisseuren und Musikern und einem unvergesslichem persönlichen Gespräch mit Dario Argento, weiß ich, dass ich mich in bester Gesellschaft befinde: Zählen Jacob und Wilhelm Grimm doch zu den essentiellen Inspirationen einiger der spannendsten Künstler. Die Affinität des Kinos zum Märchen ist jedenfalls uralt, geht an den Anbeginn der Cinematografie zurück und würde wohl Bücher füllen.

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Knallbunte Märchenabenteuer frei nach Vorlage

Auch im Hollywood der Gegenwart kommen Verfilmungen von Grimm’schen Märchen nicht aus der Mode, wobei die Vorlagen sehr frei ausgelegt werden. 2011 schlüpfte etwa Amanda Seyfried für "Red Riding Hood“ ins Rotkäppchen-Kostüm, Schneewittchen wurde in „Mirror Mirror“ mit Julia Roberts adaptiert, in „Snow White and the Huntsman“ präsentierten sich Kristen Stewart und Charlize Theron in pittoresken Kostümen. Den Höhepunkt erreichte diese Welle wohl 2013 mit dem Actionspektakel „Hansel and Gretel: Witchhunters“, in dem die Geschwister, die als Kinder dem Lebkuchenhaus entkommen sind, als erwachsene Hexenkiller durch das Land ziehen.

Was mir in diesem Reigen der knallbunten Märchenabenteuer gefehlt hat, ist ein dunkler und verstörender Zugang zur Welt der grimmigen Brüder. Ein Film, der mich an die sanft traumatisierenden Momente des Heranwachsens erinnert, als die Geschichtensammlung, die am 20. Dezember 1812 erstmals als „Kinder- und Hausmärchen“ veröffentlicht wurde, in mein Leben trat. Durch gespenstische Hörspiele, aber auch die Stimme meines seligen Vaters.

Mit den berühmten leuchtenden Augen folgte ich als kleiner Bub seinen manchmal recht freien Nacherzählungen, die aber auf schockierende Details nicht verzichteten. Es gab auch theatralische Szenen, in denen mein Vater, unterstützt durch das Licht einer Taschenlampe und mit einem Geschirrtuch verkleidet, etwa die böse Hexe aus „Hänsel und Gretel“ gespenstisch nachstellte. „Knusper, knusper, knäuschen“, brummte er dann, „wer knuspert an meinem Häuschen?“

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Neulich im Designer-Hexenhaus

In der neuesten Adaption des uralten Stoffs hat es sich ausgeknuspert. Wenn „Gretel und Hänsel“ im gleichnamigen Film das Hexenhaus im Wald finden, dann sind die Wände nicht aus süßem Kuchen. Der spitze, dreieckige Holzbau sieht wie eine skandinavische Designerhütte aus, in der betont unheimlichen Variante halt.

Überhaupt, es gibt viele Dreiecke in "Gretel und Hänsel“. Regisseur Osgood Perkins versucht, wie sämtliche der genannten Vorgängerwerke, das ikonische Märchen der Brüder Grimm neu zu erfinden. Streng, stylish und morbid zugleich ist seine Version, Hipster und Gruftis zugleich werden den Look lieben, Marilyn Manson könnte neidisch werden.

Aber auch inhaltlich bemüht sich „Gretel und Hänsel" um frische Ansätze. Schon der Titel macht klar: Hier spielt die große Schwester die Hauptrolle. Sophia Lillis, der jugendliche Horror-Shootingstar aus beiden „It“ Teilen oder der Netflixserie „I Am Not Okay With This“ personifiziert Gretel als 16-jährige Rebellin, die von gänzlich verrohten Erwachsenen bedrängt wird. Der wenig beeindruckende Brite Sam Leaky ist ihr kleiner, lästiger Bruder, den die fiese Mutter ebenfalls im Wald aussetzt. Sogar die gruselige Hexe, von Alice Krige verkörpert, umweht ein Hauch Feminismus.

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Furchterregende Vorlage

Aber auch wenn diese Ideen sehr gut gemeint sind und die Bilder faszinieren: Die einschläfernde Inszenierung macht leider alles zunichte. Der Sohn des legendären Anthony „Psycho“ Perkins im Regiestuhl hat zwar ein großes Talent für perfekt ausgeleuchtete Tableaus, aber das war es auch schon. Zähflüssig entwickelt sich die altbekannte Fabel, mit fashionablen Twists gespickt.

Dabei ist die Vorlage noch immer furchterregend bis zum Anschlag. Jacob und Wilhelm Grimm erzählen von Kindesmissbrauch, Kidnapping und Kannibalismus, ein Regisseur wie „Hereditary“-Macher Ari Aster würde daraus den ultimativen modrig-muffigen Albtraum kreieren. „Gretel und Hänsel“ ist aber letztlich, trotz angenehm kurzer Länge von knapp 90 Minuten, für abgebrühte Horrorfans zu langweilig, für die lieben Kleinen wiederum zu creepy. An meinen Vater, mit Geschirrtuch auf dem Kopf und tiefer Hexenstimme, kommt der Film nicht mal annähernd ran.

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