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Filmstills aus "The Underground Railroad"

Amazon Prime

Innovativ und erschütternd: „The Underground Railroad“

Regisseur Barry Jenkins verwandelt einen preisgekrönten Roman über die Sklaverei in ein beklemmendes Serien-Meisterwerk, dem wir uns auch im aktuellen Serienspecial des FM4 Film Podcasts widmen.

Von Christian Fuchs

Paul Thomas Anderson, Claire Denis, Wong Kar-Wai: Wenn ein Regisseur solche gefeierten wie konsequenten Kolleg*innen als Einflüsse nennt, dann schreit das nach Ambition. Fällt dann auch noch der Name Andrei Tarkowski, denkt man gleich an elegisches Arthouse-Kino. Barry Jenkins ließ sich von diesen Cineasten-Ikonen jedoch zu einer Fernsehsaga inspirieren.

The Underground Railroad“ ist allerdings mit ziemlicher Sicherheit die ungewöhnlichste Serie in diesem Jahr. Und vielleicht auch die beste. Barry Jenkins verfilmt den gleichnamigen preisgekrönten Roman des Autors Colson Whitehead als filmischen Fiebertraum. Sonnenverbrannte Bilder idyllischer Landschaften betören uns, intensive Farben leuchten. Das Grauen lauert aber in jeder Serienminute.

Filmstills aus "The Underground Railroad"

Amazon Prime

Fiktion und Fakten, Dystopie und Utopie

„The Underground Railroad“ zeigt die Odyssee der Sklavin Cora (Thuso Mbedu) durch Amerika als Reise ins Herz der absoluten Finsternis. Zehn Episoden lang flüchtet die junge Frau durch das Land, von einer Baumwollplantage in Georgia bis ins ferne Indiana.

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Der FM4 Film Podcast läuft am Montag um Mitternacht auf Radio FM4 und ist auch in der Radiothek verfügbar.

Jeder US-Bundesstaat hält Mitte des 19. Jahrhunderts seine ganz eigenen Schrecken bereit. In South Carolina entpuppt sich die vermeintlich liberale Haltung der weißen Mittelschicht als Fassade, hinter der klaffende Abgründe schlummern. Im fanatisch religiösen North Carolina werden Schwarze beim bloßen Sichtkontakt auf offener Straße erhängt.

Wer jetzt historische Wahrheiten überprüfen will, sollte wissen: Wie die Buchvorlage vermischt die Serie ganz bewusst Fiktion und Fakten, Dystopie und Utopie. Es ist eine Alternative History, die Barry Jenkins aufrollt, magischer Realismus könnte man es nennen, ein Journalist spricht gar von Retro-Afrofuturismus.

Während die echte „Underground Railroad“ ein Fluchthilfenetzwerk von Gegner*innen der Sklaverei meinte, ein geheimes Reich aus Gleisen, Tunneln und sicheren Verstecken, fahren in Roman und Serie tatsächlich Dampflokomotiven durch unterirdische Stollen. Das hat einen Hauch von Spielberg und Steampunk, aber sobald die Protagonistin den Zug verlässt und an die Oberfläche kommt, verfliegt jeder Zauber.

Strenger Ernst statt Genre-Nervenkitzel

In diesen United States of Terror, Jahre vor dem Bürgerkrieg zwischen Süden und Norden, ist rassistische Gewalt omnipräsent. Colson Whitehead benutzt den Stil einer allegorischen Erzählung, um sämtliche Gräueltaten aufzulisten, mit denen People of Color bis zum heutigen Tag konfrontiert sind.

Das birgt das kontroverse Potential zu einem Exploitation-Schocker, gibt es doch kaum ein sadistisches Verbrechen, das die weißen Plantagenbesitzer ausließen. Barry Jenkins, ein feinsinniger Filmemacher, der für das zärtliche Homosexuellen-Drama „Moonlight“ einen Oscar bekommen hat, zeigt die Brutalität zwar ungeschönt. Und nennt Jordan Peele, den Shootingstar des New Black Horror, als weiteres inszenatorisches Vorbild. Gleichzeitig durchzieht ein strenger Ernst die Serie, der sie von Genre-Nervenkitzel weit entfernt.

Hier liegt auch einer der zentralen Unterschiede zu einer fragwürdigen Konkurrenzserie wie „Them“, ebenfalls von Amazon Prime produziert. Die Torturen, die Cora und andere Flüchtlinge erleiden, sind niemals selbstzweckhaft in Szene gesetzt, Jenkins ist sich der Verantwortung des schweren Themas stets bewusst.

Persönliche Anmerkung: „The Underground Railroad“ machte mir wieder einmal klar, wie massiv ich als Filmfan vom Rachekino sozialisiert bin, von einer befreienden Katharsis, die einem nur die Kunst erlaubt. Bei der Sichtung mancher Episoden, in Momenten wo das Martyrium der Charaktere unerträglich anzusehen ist, träumte ich von „Django Unchained“, der die Herrenhäuser und Plantagen abfackelt. Aber das ist ein ganz anderes alternatives Universum.

Filmstills aus "The Underground Railroad"

Amazon Prime

Poesie und Beklemmung gleichermaßen

Was „The Underground Railroad“ aber wirklich so speziell macht, ist neben dem Inhalt eben die Form. Barry Jenkins verzichtet auf all die öden Mechanismen, mit denen Serien heute um die Aufmerksamkeit der Bingewatch-Crowd buhlen. Stattdessen präsentiert er einen 585 Minuten langen Spielfilm, in Kapitel unterteilt, der sich viel Zeit lässt: für Poesie und Beklemmung gleichermaßen.

Maßgeblich beteiligt an der Atmosphäre der höchst unterschiedlichen Episoden ist neben Kameramann James Laxton der Komponist Nicholas Britell. Streichquartette vermengen sich mit Ambientsounds und Naturklängen, bedrückende Drones prallen auf minimalistische Melodien. Zwischendurch, in einer Montagesequenz für die Ewigkeit, ertönt Claude Debussy, am Ende jeder Folge kommentieren Tracks von Kendrick Lamar oder Childish Gambino das Gesehene.

Und dann erst die Schauspieler*innen. Jenkins verzichtet auf Prominenz und deren ablenkende Präsenz, nur Joel Edgerton als unerbittlichen Sklavenjäger kennt und schätzt man. Die Traurigkeit in Thuso Mbedus Gesicht, ihre prägnanten Sätze, ihr ganz selten aufflackerndes Lächeln, vergisst man aber lange nicht.

Aaron Pierre als Weggefährte auf der Flucht beweist Starpotential. Vor allem der 10-jährige Chase Dillon, als loyaler afroamerikanischer Diener an der Seite des weißen Sklavenjägers, gräbt sich in der Erinnerung ein. Mit dieser gruseligen Figur gelingt es Barry Jenkins, die perversen Unterdrückungsmechanismen der Ära auf den Punkt zu bringen.

Filmstills aus "The Underground Railroad"

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Apokalyptische Tristesse und wärmende Herzlichkeit

Als dann die letzten beiden Folgen vorab über meine Heimkino-Leinwand flimmern, wird mir die Bedeutung dieses Epos noch einmal so richtig bewusst. Seit der Serie „Roots“, die in den späten 70ern die ganze (Fernseh-)Welt mit dem Trauma der Sklaverei konfrontierte, gab es kein ehrgeizigeres Projekt mehr zum Thema. „The Underground Railroad“ ist mit all den cinephilen Querverweisen allerdings deutlich avancierter angelegt.

Barry Jenkins ist ein erschütterndes Kunstwerk gelungen, das Stereotypen kommentiert und umschreibt, apokalyptische Tristesse und wärmende Herzlichkeit vereint, ein Bildersturm, der in einer vehementen Anklage mündet. Amerikas „very foundations are murder, theft and cruelty“ heißt es in einem Schlüsselmonolog. In einer Phase, wo der Serienzirkus gerade erstarrt und formatiert wirkt, steht „The Underground Railroad“ ganz ohne Vergleich da.

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