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Nicole Seiferts Buch zwischen anderen, umgedrehten Büchern

Zita Bereuter

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„Frauenliteratur“ von Nicole Seifert

„Tatsächlich lässt sich in Deutschland nach wie vor leicht Abitur machen, ohne auch nur ein einziges Buch einer Frau lesen zu müssen.“ Die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Nicole Seifert erklärt die Entwicklung und Situation von Literatur von Frauen und öffnet eine Schatztruhe.

von Zita Bereuter

Es ist ein einfaches Selbstexperiment: Im eigenen Bücherregal alle Bücher, die von einem Autor sind, umdrehen und wieder ins Regal stellen. Lesbar sind also nur mehr die Buchrücken von Autorinnen. Wie schaut’s aus? Bei einer großen Mehrheit dominieren wohl weiße Buchseiten, also Vorderschnitte (Vorderschnitt heißt die offene Seitenfläche gegenüber vom Buchrücken). Das ist übrigens weniger ein persönliches, als ein strukturelles Problem.

Bei wenigen Menschen ist das ausgeglichen. Bei Nicole Seifert ist es wohl genau umgekehrt. Die Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin liest seit drei Jahren bewusst Literatur von Frauen und schreibt darüber auf ihrem Blog Nacht und Tag oder auch auf instagram.com/nachtundtag.blog.

Ursprünglich war das eigentlich Zufall. „Da wollte ich nicht die Bücher besprechen, die sowieso so sehr präsent sind, sondern das, was so ein bisschen hinten runterfällt. Und dann fiel mir auf, das sind Autorinnen.“ Ernüchtert musste die feststellen, dass auch sie selbst bisher hauptsächlich Werke von Männern gelesen hatte.

„Tatsächlich lässt sich in Deutschland nach wie vor leicht Abitur machen, ohne auch nur ein einziges Buch einer Frau lesen zu müssen.“

Die Kategorie nicht binär wird in der Forschung noch kaum bewertet. Auch da gibt es mittlerweile mehr Sichtbarkeit und Beachtung, beobachtet Nicole Seifert erfreut.

Nicole Seifert hat aber nicht nur Werke von Autorinnen gelesen, sondern sich mehr und mehr für die Hintergründe interessiert. Warum werden weniger Bücher von Frauen verlegt, gelesen und kritisiert? Warum beziehen sich die wenigen Kritiken dann selten auf den Inhalt und gehen mehr auf das Äußere der Autorin und deren Lebensumstände ein? Wie kommt es, dass in literarischen Kanons kaum Frauen vertreten sind? Welche Autorinnen wurden in der Literaturgeschichte vergessen? Was macht Literatur von Frauen aus? Ihre Erkenntnisse hat sie in dem Buch „Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt.“ zusammengefasst. Darin stellt sie Zusammenhänge her, macht deutlich und verständlich und klärt etliche Vorurteile auf.

Frauen schreiben eben weniger

Nur allzu oft muss Nicole Seifert diesem Argument entgegenhalten, dass Frauen lange keinen oder nur erschwerten Zugang zu Bildung hatten. Höhere Mädchenbildung war Privatsache. „‚Schreibende Frauenzimmer‘ waren bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein verpönt und wurden gesellschaftlich geschnitten.“ Neben Haushalt und Carearbeit durften Frauen schreiben.

Nicole Seifert erwähnt in dem Zusammenhang Marlen Haushofer. „Noch Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts sah sich die in einer österr. Kleinstadt lebende Autorin Marlen Haushofer, Mutter und Zahnarztgattin, damit konfrontiert, dass ihr Mann und ihre Söhne ihr Schreiben überhaupt nicht gern sahen – es sollte den Familienalltag nicht beeinträchtigen. Also tat Haushofer es mithilfe von Cola und Kaffee morgens zwischen halb fünf und halb sieben oder abends zwischen neun und Mitternacht.“

Autorinnen erkämpften sich ihre Schreibzeit. Und viele Frauen schrieben. Dass sie dennoch vergessen wurden, liegt hauptsächlich daran, dass nichts für ihre Erinnerung getan wurde und wird. Auch von Marlen Haushofer gibt es etwa keine Gesamtausgabe, bemängelt Seifert.

Schließlich sind Männer nach wie vor überwiegend dafür zuständig, über wen geforscht und wer in einen Kanon aufgenommen wird, aber auch wer verlegt oder in den Medien Aufmerksamkeit erfährt.

Frauen geraten auch eher in Vergessenheit, wenn es Männer sind, die für die Erinnerung zuständig sind.

Nicole Seifert

Sabrina Adeline-Nagel

Seit ihrem zwölften Lebensjahr führt Nicole Seifert ein Büchertagebuch. Sie notiert jedes Buch, das sie gelesen hat. Eine Idee von ihrem Vater, mit dem sie damals im Wettbewerb stand – wer liest mehr? Hinzu kamen Bücher, die sie in der Schule und später im Studium las.

Vor wenigen Jahren wollte die promovierte Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin wieder vermehrt über Literatur schreiben. Ein Jahr lang las sie nur Autorinnen und schrieb darüber auf ihrem Literaturblog Nacht und Tag (angelehnt an Virgina Woolf). Aus einem Jahr wurden drei.

Ihre Lesebiographie und Erkenntnisse aus ihren Umfragen, Recherchen und Studien hat sie in dem Buch zusammengefasst: „Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt.“, das im Verlag Kiepenheuer&Witsch erschienen ist.

#Frauenzählen

Werke von Autoren werden in der Literaturkritik von Medien viel häufiger besprochen. Eine persönliche Zählung von Nicole Seifert wurde 2018 durch das Projekt #Frauenzählen der Universität Rostock bestätigt. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass Männer doppelt so häufig besprochen werden wie Frauen. Kleines Detail: „Männliche Rezensenten besprechen zu drei Vierteln Bücher von Männern und nur zu einem Viertel Bücher von Frauen. Die Rezensentinnen dagegen besprechen in ausgewogenem Maße Bücher von Männern und Frauen.“

(FM4 schnitt bei einem internen #Frauenzählen übrigens erfreulich gut ab: 2021 waren von den besprochenen Büchern 56% von Frauen.)

„banal, kitschig und trivial“

Die Lebensumstände von Frauen waren seit jeher grundsätzlich anders. Schrieben sie über ihre Umgebung und ihren Alltag, wurde das gern als kitschig, trivial oder banal abgetan. (Wenn Männer darüber schrieben, war es selbstverständlich Literatur.) Bemerkenswert findet Nicole Seifert, dass Autorinnen das immer thematisierten. „Seit Frauen schreiben, geht es auch schon immer darum, und um dieses Leben im Patriarchat, um das Abgewertetwerden“, erzählt sie im Interview.

Auch wenn einige Autorinnen daraus Komik ziehen konnten – vor allem britische Autorinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts - so sieht Nicole Seifert doch darin den Grund, warum Autorinnen schlechter kanonisiert und rezensiert wurden. „Weil würde man sich mit dieser Literatur ernsthaft auseinandersetzen, käme man ja um das Thema nicht drumrum und um das, was die Frauen da beschreiben. Dann müsste man sich ja damit auseinandersetzen, dass Frauen unterdrückt wurden und werden. Und dass die Geschlechterbilder und die Rollenverteilung eigentlich ein bisschen komisch sind - bis heute. Und dass das ungerecht ist und dass Frauen darunter leiden. Das war mir so, bevor ich angefangen habe, das Buch zu schreiben, selbst nicht klar.“

„Erstens sieht man sich nicht repräsentiert oder Frauen werden in der Literatur so dargestellt, wie Männer sie sehen.“

Stattdessen kann man nach wie vor Verrisse lesen, die nichts mit dem Werk, aber viel mit der Autorin, ihrem Äußeren oder persönlichen Umständen zu tun haben. Das Kapitel über zeitgenössische Kritik an Autorinnen zu schreiben, fiel Nicole Seifert am leichtesten. Da habe sie erkannt, „dass das so System hat.“ Für sie ist das „eigentlich so der Kern oder das wichtigste Kapitel des Buches, weil es eben zeigt, dass es immer noch ein Problem ist.“

Frauen in den Kanon

In einem literarischen Kanon werden jene Werke gesammelt, die unbedingt lesenswert sind, die also wertvoll sind und in Folge auch häufig in Schulen gelesen und besprochen werden. Literaturkritiker fühlen sich gerne bemüßigt, einen Kanon aufzustellen. Marcel Reich-Ranicki gab etwa 2001 einen heraus. In seinem Kanon der deutschsprachigen Literatur empfiehlt er 74 Autoren, wobei manche mit mehreren Werken vertreten sind. Frauen kommen genau fünf vor. Hauptsächlich mit Gedichten.

Buchcover

Kiepenheuer & Witsch

„Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt.“ von Nicole Seifert ist bei Kiepenheuer und Witsch erschienen.

Erst 2019 erstellt der Literaturkritiker Denis Scheck seinen Kanon „Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“. Bei ihm finden sich gerade mal ein Fünftel Autorinnen. (Dabei könnte man sich so leicht bei dem Projekt „Die Kanon“ inspirieren lassen.)

Nicole Seifert weiß um die Bedeutung eines Kanons. „Man lernt ja indirekt dadurch auch: Was literarisch wertvoll ist, stammt von Männern. Das von Frauen ist nicht so viel wert, denn es kommt nicht vor. Und das hat ja auch was mit Empathie zu tun. Sich hineinversetzen in andere Leben. Das ist ja gerade auch das, was spannend ist am Lesen. Also da, da wird ein Grundstein gelegt oder vielmehr nicht gelegt für letztlich auch das Verständnis füreinander.“

Umso mehr ist Nicole Seifert auch weiterhin offen für Literatur von Frauen und Einblicken in neue Welten. „Wie viele Coming of Age Geschichten von privilegierten Männern möchte man lesen? Ich habe für drei Leben eigentlich schon genug gelesen davon. Und die Geschichten, die ich jetzt lese, von Transfrauen und von schwarzen Frauen und auch von schreibenden Müttern, die das alles thematisieren, die sich mit einer großen Wahrhaftigkeit ihren Lebensumständen auch nähern und auch Tabus ansprechen - interessanter geht das eigentlich nicht. Deshalb muss ich auch sagen, waren das jetzt die spannendsten Lesejahre.“

Für sie soll es auch so weitergehen. „Denn es gibt ja einerseits diese spannende Gegenwartsliteratur und andererseits so viel aus der Vergangenheit zu entdecken.“

Vorschau

Schaut Nicole Seifert in aktuelle Verlagsvorschauen oder in soziale Medien, stimmt sie das zuversichtlich. Es ändert sich viel. Sie findet, „dass da eine große Bereitschaft ist, sich mit den Stimmen, die bisher in der Literaturgeschichte, im Kanon, in der Uni, im Feuilleton zu kurz kamen - und das sind ja nicht nur Frauen, sondern das ist eben auch queere Literatur und Literatur von Autorinnen of Colour - Da ist eine große Bereitschaft, sich mit denen auseinanderzusetzen, die zu lesen und sich denen zu öffnen.“

Gleichzeitig sieht sie auch viel Widerstand. Etwa bei der Vergabe von Preisen. „Da wird immer noch unterschieden zwischen eigentlicher Literatur und politischer Literatur. Und politisch ist dann eben angeblich das und nur das, was jetzt sozusagen neu dazugekommen ist. Da wird dann so getan, als wäre das nur aus politischen Gründen auf diesen Listen, weil man das eben jetzt so machen muss, weil es sonst Ärger gibt.“ Hier verortet sie das Missverständnis, „dass es da irgendeinen Unterschied gäbe zwischen Diversität und Qualität. Und Qualität ist dann eben das, was man kennt von alten weißen Männern.“

„Frauenliteratur“ von Nicole Seifert ist ein guter Kompass und Leitfaden. Ständig streicht man Namen an und wundert sich, dass einem so Vieles so lange nicht bewusst war. Was für ein Augenöffner! Was für ein Buch!

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