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Bipolar Feminin, Publikum

Franz Reiterer

festivalradio

Eine Ode an die Wiener Popkultur

Eine geballte Popkulturschau der homegrown Musikszene, bei freiem Eintritt mitten in Wien: Das liefert das Popfest auch heuer wieder. Am zweiten Tag mit Highlights wie Bipolar Feminin, Bex, Endless Wellness, Ankathie Koi, Cousines like Shit und mehr.

Von Michaela Pichler

Es menschelt an diesem wuseligen, windigen Karlsplatzfreitag. Aus der U-Bahn strömen die Leute, Lastenfahrräder suchen verzweifelt einen Weg durch den immer voller werdenden Resselpark, bei den Bars stehen Durstige für Bier an und hinter den Zäunen schaukeln Kinder in die Höhe. Viele sind gekommen, um sich Livemusik anzuhören. Ein Großteil, um einfach gemeinsam einen guten Sommerabend bei freiem Eintritt zu erleben. Und manche sind vielleicht sogar fürs Kino gekommen. Denn heuer darf man sich am Popfest nicht nur über Neues aus der österreichischen Musikszene freuen, heuer dürfen wir uns auch bei der Kinokassa anstellen, aber ganz ohne Ticketpreise.

Im Stadtkino Wien – einem der ältesten Programmkinos der Stadt – zeigt das Popfest exklusiv den neuen Dokumentarfilm von Philipp Jedicke, die Karten waren in kurzer Zeit restlos ausreserviert: „Vienna Calling“ ist ein 1.000-Teile-Puzzle, das versucht, diese Stadt und ihre unterschiedlichen Subkulturen abzubilden, ohne dabei romantisch abgeklopfte Narrative zu erzählen. Viele verschiedene Wiener Köpfe kommen darin vor, die dem FM4 Universum alles andere als fremd sind: Da gibt es den Nino aus Wien, der beim Friseur seinen Nacken rasiert bekommt, da gibt es einen Voodoo Jürgens, der im Beisl sein Gulasch aufisst. Da gibt es das Duo EsRap, das bei der Familie daheim auf der Couch sitzt und über Volksschulzeiten lamentiert. Und da gibt es viele Nachtszenen, dunkle Lokale, verrauchte Gespräche und gute Gedanken. Dieser Film ist wie fürs Popfest-Publikum gemacht.

Karlsplatz, Publikum, FM4 Ente

Franz Reiterer

Denn ein klassischer Popfest-Abend folgt dem Schaukastenprinzip: Jede Bühne eine andere Welt, die es zu entdecken gilt. Schau ma mal, was da heute auf der Bühne passiert, schau ma mal, was da in Zukunft noch Gutes und Großes auf uns zurollen mag.

Mit jedem Jahr wird die Liste an deutschsprachigen Auftretenden größer. So viel Tiefgänge die deutsche Sprache hat, mindestens genauso viel Treibsand kann sich zwischen den Zeilen verstecken. Es geht also immer wieder um die Frage, wie denn ein richtig guter deutscher Popsong klingen kann, soll, muss. Eine Antwort kann man sich gleich beim ersten Act am Freitagabend auf der Seebühne holen: Das Quartett Endless Wellness besteht aus den Freund:innen Philipp, Adele, Hjörtur und Milena, es handelt sich um das neueste Produkt von Ink Music. Zwei Songs haben die Salzburger:innen bereits veröffentlicht, diese Lieder sollen das „Gefühl kollektiver Erschöpfung umleiten in ein gemeinsames, lautes Aufbegehren“. So in der Theorie.

In der Praxis tauchen da auf der Seebühne Texte über die vielen Katastrophen auf, die wir uns jeden Tag mindestens zehnmal übers Smartphone ansehen, wenn wir sie eh schon nicht am eigenen Leib erfahren. Es wird im leichten Dialekt übers Nicht-Kinder-Kriegen während einer Klimakrise laut nachgedacht, ein bisschen dazwischen stimmlich geschluchzt, und dann tauchen da viele, viele Popzitate im Liveset auf. Endless Wellness reisen gemeinsam mit dem Festivalpublikum in die 80er Jahre, treffen dort Nena, Bryan Adams und Grauzone: „Ich möchte kein Eisbär sein / ich möchte eine Zukunft“, schreit Sänger Philipp Auer über die Bühne, neben ihm macht ein Porzellan-Basset brav Platz. Er heißt Pudding und wird als weiteres Bandmitglied vorgestellt, wie auch Produzent Jakob Herber (u.a. für Aze, Culk, Anger), der an diesem Abend extra speziell fürs Popfest an der zusätzlichen Gitarre unterstützt.

Als dann der Debütsong der Band angespielt wird, singt die Menschenmenge mit. „Hand im Gesicht“ ist ein gelungener Spagat. Das Popfest schreibt im Pressetext an dieser Stelle über Indie und Ironie und es ist schon ein Kunststück, das da gelingt: Ein Song, in dem „Spatzi“ auf „Nackabatzi“ gereimt wird, dass dieser einer der besten an dem Abend wird, hätte wohl so niemand gedacht. Doch Endless Wellness reihen in diesen Zeilen so gut Existenzangst an fragile Männlichkeitsbilder, Hypersensibilität an Intimität, es geht sich sehr viel aus in dieser kleinen Pop-Perle. Und am Ende stellen Endless Wellness die vielleicht wichtigste Frage des Wochenendes: „Kommst bald wieder mal nach Wien?“ Und dichten noch ein schmunzelndes "Vielleicht auf’s Popfest?“ an den Songtext.

Die einen Newcomer, die man dieser Tage neu für sich lieben lernen kann, üben sich fleißig im Reimschema. Manche schon längst am Popfest etablierten Acts – wie Ankathie Koi zum Beispiel – schwenken 2023 sogar ins Deutsche. Für das Fest aller Feste hat sich die bayerische Wahlwienerin extra eine frische Dauerwelle machen lassen, als sie die Bühne betritt, sitzen ihre Overknees und ihr schwarzer Lederbody wie der Urschrei, den sie ins Mikro brüllt. Ankathie Koi ist Overstatement – zum Glück! Als wahrer Popstar wird sie angekündigt, dieses Festival ist natürlich kein neues Terrain für sie. Quasi brandneu sind allerdings viele der Lieder, die sie uns präsentiert. Deutsch sind sie nun eben größtenteils, dazwischen für den Refrain auch ein bisschen ein Denglish, für den Mitsingteil dann lieber wieder doch ein englischer Oneliner. „Let’s burnout together!“ – das ist einer der vielen Kampfrufe, die Ankathie Koi als Song verpackt.

Als der Mond dann langsam, aber doch die Kuppel der Karlskirche hinaufkrabbelt, wird es auch einmal Zeit für eine Nachtmusik. Auf der Seebühne teilen sich zu diesem Zweck die beiden Rapperinnen Skofi und Bex den Slot. Erstere ist mit dem Produzenten Skyfarmer angereist, um ein erstes Warm-up für die Crowd anzustimmen. Richtig angeheizt wird dann aber bei Bex. „Bounce!“, lautet die Aufforderung der Stunde, der Bass vibriert bis zur Albertina Modern hinüber. Die Solokünstlerin war heuer in Wien bereits beim Hyperreality und beim Impulstanz Festival zu sehen, fürs Popfest hat sie außerdem noch ihre beste Freundin W1ZE mit auf die Bühne geholt. Die W1ZE, die genau vor einem Jahr bei der Eröffnung der Seebühnen gestrahlt hat. „Full On Upturn“, so bezeichnet Skofi das Set von Bex, es ist ein schönes und richtiges Kompliment an die Kollegin.

Am Popfest ist Platz – für unterschiedliche Herangehensweisen an Popmusik, für Vielfalt im Sound, für Menschen, die sich am Teich treffen und gemeinsam ein bisschen Wiener Luft atmen wollen. Für das Lautsein und das Zerlegen, wie es gerne im Prechtlsaal in der TU geschieht. An diesem Abend mit jeder Menge guter Gitarrenbands: Cousines like Shit, die unter anderem ihren „Barbie“-Song im dampfend vollen Saal zelebrieren; dann gibt es auch noch das Rrriot-Trio Szene Putzn (wohl der beste Bandname!?), das sich selbst im schönen Genre Super Sexy Trash Bravo Punk verortet. Dann gibt es da auch noch die Leftovers, über die schon viele Zeilen auf dieser Website geschrieben wurden. Vor der TU stehen die Zuspätkommenden noch lange an, um diese Band live beim Abreißen erleben zu können.

All das hat Platz hier in der Wiener Innenstadt. Dazwischen ist auch noch Raum für Fragen der nachdenklichen Sorte: Wie viel Ruhe braucht die Wut? Und wie viel Sanftheit geht sich eigentlich im Punk aus? Das sind Gedanken, die sich auch die Headliner-Gruppe an diesem Abend immer wieder in ihrem Songwriting stellen. Bipolar Feminin eilt ein hervorragender Liveruf voraus, aber was heißt hier voraus - für so einen muss man ja auch allerhand im Vorhinein tun. Gute Konzerte spielen, das ist Voraussetzung. Gute Platten rausbringen, die man da auf den Bühnen dann präsentieren kann, eine weitere. Und genau das haben Bipolar Feminin diesen Frühling mit ihrem Debütalbum „Ein fragiles System“ auch gemacht.

Dass diese Band am Popfest 2023 auf der begehrten Seebühne den Headliner-Slot spielt, war eine der besten Entscheidungen, die das Kurator:innen-Duo Anna Mabo und Dorian Concept heuer getroffen haben. Was auf der Platte noch softer abgemischt war, kommt nun mit umso mehr Präsenz raus in die Nachtluft. Frontfrau Leni Ulrich hat ein Charisma, das gleich für mehr als eine Handvoll Personen reichen würde. Die besten Parolen kommen an diesem Abend von ihr. Es geht bei Bipolar Feminin aber eben um vieles, um Körperlichkeiten und Befindlichkeiten, immer in einem System, immer in einem bestimmten Machtgefälle. Da hilft das Rausschreien, das immer wieder auf der Bühne passiert, schon sehr. Der Resselpark ist voll mit Menschen, die bereit sind für diese Kost. Und gut hat es geschmeckt, da haben alle aufgegessen, am Samstag wird es schönes Wetter geben. Das trifft sich eh gut, immerhin steht da ja schon das nächste Popfest-Abenteuer an, wenn es wieder heißt: Karlsplatz Calling.

Radio FM4 sendet am Samstag ab 19 Uhr live vom Popfest Wien.

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