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PJ Harvey "I inside the old year dying" Album Artwork

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Ein Jahr unter Bekenntnisdruck: Der Im Sumpf Jahresrückblick 2023

Wo stehst du, Kollegin? Ein Jahr unter Bekenntnisdruck.

Von Thomas Edlinger

„Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?“, heißt ein Bild von Jörg Immendorf von 1973. Es zeigt einen Künstler, der einen anderen Künstler zur Solidarität mit der demonstrierenden Arbeiterschaft auffordert. Die Schriftstellerin Eva Menasse sagte in einem Interview im Falter: „Diese Bekenntniswut hat es früher nicht gegeben.“ Und heute? Bist du solidarisch mit Israel, Kollege? Bist du für ein freies Palästina, Kollegin?

Als ich diesen November in Utrecht ein Musikfestival besuchte, rief während eines Konzerts der libanesischen Band Sanam ein Besucher in eine Pause hinein: „Free Palestine.“ Der Slogan wurde prompt auf der Bühne wiederholt. Was heißt Free Palestine? Wie verhält sich der Satz zum Code für die Auslöschung Israels, „From the river to the sea - Palestine will be free“? Kann es überhaupt ein freies, ein demokratisches Palästina geben, wenn Kräfte wie die Hamas mitmischen? Beim Konzert des ugandischen Tribalindustrial-Acts Nihiloxica zischelte dann auch noch ein in fiesen Geräuschen gut eingebettetes Sample: terror state Israel. Auf einer Demo in Berlin konnte man hingegen auch den Satz lesen: "From the River to the Sea, We Demand Equality.” Das Schild wurde von einer jüdischen Israelin hochgehalten. Die Botschaft war ein Fall für die Polizei. Sie konfiszierte das Plakat.

PJ Harvey "I inside the old year dying" Album Artwork

Partisan Records

Thomas Edlingers #1: „I inside the old year dying“ von PJ Harvey

Auch wenn an manchen Unis und auf anderen hasserfüllten Demos, ebenso wie anderswo auf der Welt, ein antisemitischer Mob laut wurde: die Staatsräson und weite Teile der Öffentlichkeit fordern im Täterland Deutschland eine Haltung, die mit Israel solidarisch ist. Die rechtsliberale Zeitung Die Welt hat bekannte Schauspieler:innen angerufen und dazu aufgefordert, sich von der Hamas zu distanzieren. Jürgen Habermas verfasste gemeinsam mit Kolleg:innen eine Stellungnahme, in der der israelische Militärschlag als prinzipiell gerechtfertigt dargestellt und zur Solidarität mit Israel und jüdischen Menschen aufgerufen wird. Habermas folgt damit den Grundzügen der Regierungspolitik in Berlin. Schon 2019 hatte der deutsche Bundestag beschlossen, die internationale Bewegung BDS zu ächten und als antisemitisch einzustufen. BDS steht für Boycott, Divestment and Sanctions und setzt sich für den Boykott israelischer Künstler:innen und Wissenschaftler:innen und für die Aufkündigung von Handelsbeziehungen zu Israel ein.

Viele Künstler:innen und Musiker:innen nicht nur aus dem sogenannten globalen Süden sind entweder offene Befürworterinnen von BDS oder gelten als solche – von Kae Tempest bis Brian Eno, von Teilen des in Misskredit geratenen documenta-Leitungskollektivs ruangrupa bis zu den Regisseuren Jean Luc Godard und Ken Loach. Im Dezember 2020 veröffentlichten die Leitungen zahlreicher Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland einen Aufruf, der einerseits den Boykottversuch Israels durch BDS ablehnt, zugleich aber auch die Logik der Ausgrenzung durch die Bundestags-Resolution gegen alle BDS-Sympathisant:innen zurückweist und sich für Weltoffenheit einsetzt.

Nach dem 7. Oktober haben vereinzelte Unterzeichner:innen dieser Initiative ihre Unterschrift wieder zurückgezogen. Viele andere schweigen lieber, bevor sie sich in die Nesseln setzen. Die Frage, wer sich wie wozu wann bekennt, bestimmt die Atmosphäre 2023 mehr denn je. Bemerkbar machte sich dieser Druck schon zu Beginn des Jahres. Erinnert sich noch jemand an die One-Love-Armbinden-Idee der Deutschen bei der Fußball-WM in Katar? Und wie hältst du es mit der Unterstützung des Verteidigungskriegs der Ukraine? Waffenlieferungen ja oder nein? Wo stehst du, Kollegin?

Cover von - Reverend Kristin Michael Hayter: SAVED!

Perpetual Flame Ministries

Fritz Ostermayers #1: Reverend Kristin Michael Hayter: SAVED!

Auch anhand dieses Konflikts konnte man sehen, wie sich im Westen die Fronten verhärten und das Canceln die Logik von Boykotten durchsetzt, während ein großer Teil des sogenannten Globalen Südens dazu schweigt und Russland nicht sanktioniert. Die Initiative Cancel Russia geht davon aus, dass eine Dekolonisierung Russlands nur durch den Boykott der russischen Kultur möglich ist. Die Kyiv-Biennale in Wien hat den Wunsch nach einem Ausschluss russischer Teilnehmer:innen, seien sie noch so regimekritisch, schon in ihrer Planung erfahren.

Ob die Ukraine oder die Situation in Gaza und Israel: Jedes Wort bzw. auch die Abwesenheit von entscheidenden Worten kann zum Verhängnis werden. Der westliche Liberalismus zeigt der postkolonialen Linken die rote Karte und tut so, als ob nun endlich der Verdacht bestätigt wäre, dass es außerhalb des Westens an Aufklärung und Vernunft mangle. Die Linke selbst erscheint gespalten. Das Empörungsfeuer der offenen Briefe offenbart eine Kultur des Verdachts. Watchdogs der Wahrheit lauern auf den Fehler, dessen Urheber:in man dann an den öffentlichen Pranger stellen kann. Und der Fehler findet sich – gerade angesichts der regional und historisch weit ausgreifenden Verwerfungen des Nahost-Konflikts - fast immer wie bestellt. Judith Butlers Brief „Philosophy for Palestine“ wird die mangelnde Verurteilung der Hamas vorgeworfen, Jürgen Habermas die Zurückweisung der Möglichkeit genozidaler Auswirkungen des Gazakriegs. Die Präsidentin der US-Eliteuni Harvard Claudine Gay antwortete bei einer Anhörung zu antisemitischen Umtrieben am Campus auf die zwei Mal gestellte Frage, ob der Aufruf zum Völkermord eine Verletzung der Regeln des universitären Miteinanders darstelle, zwei Mal im Ernst mit dem Satz: „Das kommt auf den Kontext an.“ Ihre Kollegin von der University of Pennsylvania ist wegen ähnlichem indiskutablen Herumgedruckse bereits zurückgetreten. Das alles passiert wiederum vor dem Hintergrund systematischer rechter Stimmungsmache gegen die Universitäten. Per Bescheid des US-Höchstgerichts wurde schon im Juni der Minderheitenschutz in Form der Affirmation Actions aufgekündigt.

Krass ist – aus umgekehrter Perspektive – auch der Fall des Leiters der Kurzfilmtage Oberhausen, Lars-Hendrik Gass. Gass rief am 20. Oktober zu einer proisraelischen Demonstration auf und postete auf dem offiziellen Facebook-Account des Festivals: „Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle! Bitte!“ Bald war Gass im Netz mit einer von rund 2000 Menschen unterzeichneten Erklärung konfrontiert, die seinen Rücktritt oder den Boykott des Festivals fordern.

Wird Oberhausen nun zu einem lokalen Filmfestival mutieren, weil die internationalen Gäste ausbleiben? Muss Gass gehen? Ein ähnliches Schicksal der Selbstprovinzialisierung aufgrund der Verwerfungen um diverse Antisemitismusvorwürfe erwarten Fachleute auch für die bislang immer noch bedeutendste Weltkunstschau, die documenta in Kassel.

Gass spricht in einem Interview zu dem Fall von einer „Identitätspolitik des Globalen Südens“ – was immer das auch genau sein soll. Identität kann aber tatsächlich zu einer Falle werden. „Wir zuerst“, nennt Bernd Stegemann das Credo von Identität. Wir-Bildungen werden noch stärker, wenn man auf sie zurückgeworfen wird – zum Beispiel im Falle von Krieg und Terror, Vertreibung und Benachteiligung. „Nur wir“, so könnte man das politische Ziel der islamistischen Vernichtungsfantasien des Iran, der Hamas oder der Hisbollah bezeichnen. Mit „Nur wir“ könnte man aber auch die Umsiedelungspläne rechtsnationalistischer Regierungspolitiker in Jerusalem übersetzen, die von einem Großisrael ohne Araber träumen.

Fever Ray Radical Romantics Artwork

Nina Andersson

Katharina Seidlers #1: Fever Ray - Radical Romantics

Auch wer nicht „Nur wir!“ ruft, muss sich eingestehen: Die Situation wird jeden Tag schlimmer. Ohne dass es einen Plan gäbe, wie ein fortgesetztes Massensterben Unschuldiger verhindert und wie zwei Millionen Menschen in einem zerbombten Gaza leben bzw. überleben sollten. Bzw. wie dann - selbst wenn die Hamas militärisch besiegt wäre - die zukünftige Terrorgefahr für Israel nachhaltig eingedämmt sei sollte. Der merklich erschütterte israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm sagt in einem Interview mit dem Spiegel: „Die Logik der Entmenschlichung kennt bloß ein Ziel: Es wird nur ein Volk bleiben. Die einen oder die anderen. Sie ist Teil der Logik eines totalen Kriegs; nicht eines Kriegs, an dessen Ende die beiden Beteiligten irgendwie Frieden schließen müssen, sondern eines Kriegs, in dem nur eine Seite überleben wird.“

Boehm gilt auch als ein scharfsinniger Reanimateur einer alten, in Verruf geratenen Idee. Die Idee war der Universalismus. Universalismus gilt heute vielen nur mehr als westlicher Vorwand für Exklusion, als Sonntagsrede derer, die sich jene Freiheit nehmen, die sie anderen verwehren. Und trotzdem: Obwohl weiße Männer wie Thomas Jefferson Freiheit predigten und Sklaven hielten, obwohl der Kolonialismus gleiche Rechte in den Kolonien nicht gelten ließ und zur Legitimation dieser Ungleichheit Menschen zu Menschen zweiter Klasse erklärt werden mussten, ist das Prinzip des Universalismus nicht tot. Im Gegenteil. Wenn es das Ideal der Gleichheit nicht gäbe, wüssten wir gar nicht, was am Rassismus, also an der erfundenen Ungleichheit, falsch sein soll, sagt Omri Boehm.

Vielleicht kann man den Universalismus auch in der Erfahrung des Leids stark machen. Opfer können Täter werden, Täter können Opfer werden, das zeigt nicht nur der Konflikt im Nahen Osten. Aber kein Toter wird wieder lebendig, kein Trauma bewältigt, wenn andere leiden und sterben. Der Tod ist singulär, er ist universell und unumkehrbar. Keine Rache, keine „Nur wir“-Ideologie kann den Schmerz des Verlusts heilen für jene Nächsten, die für andere die Fernsten sind.

Und wo stehst du, Kollegin? Genau dort steht auch jemand, der vor einem halben Jahrhundert inmitten des Jom-Kippur-Kriegs Stellung bezog, indem er in Israel auftrat: Leonard Cohen. Im Song „Lover Lover Lover“, der später auf dem Album „New Skin for the Old Ceremony“ herauskam, sang er ein einziges Mal und dann nie wieder diese zusätzlichen Zeilen für sein Publikum in der Wüste: „Ich ging hinunter in die Wüste / um meinen Brüdern beim Kampf zu helfen / Ich wusste, dass sie nicht im Unrecht waren / Ich wusste, dass sie nicht im Recht waren.“

Thomas Edlinger 2023 Jahrescharts

1. PJ Harvey: I Inside the Old Year Dying
2. Cosmo Sheldrake: Wide Wet World
3. Fever Ray: Radical Romantics
4. Jaimie Branch: Fly or Die Fly or Die world
5. Lonnie Holley: Oh Me Oh My
6. Radian: Distorted Rooms
7. Beirut: Hasdel
8. L´Rain: I killed your dog
9. Musta Huone: Valosaateen Sekaan
10. Pmxper: Lavender Milk

Fritz Ostermayer 2023 Jahrescharts

1. Reverend Kristin Michael Hayter: SAVED!
2. Lonnie Holley: Oh Me Oh My
3. Model/Actriz: Dogsbody
4. Jaimie Branch: Fly or Die Fly or Die Fly or Die world
5. Unloved: Polychrome
6. Ragana: Desolation’s Flower
7. Mayssa Jallad: Marjaa: The Battle of the Hotels
8. Puma Blue: Holy Water
9. Meatraffle: Base And Superstructure
10. Seán Barna: An Evening at Macri Park

Katharina Seidler 2023 Jahrescharts

1. Fever Ray - Radical Romantics
2. Erregung öffentlicher Erregung - Speisekammer des Weltendes
3. Model/Actriz - Dogsbody
4. Anohni – my back was a bridge for you to cross
5. L'Rain - I killed your dog
6. Exek – the map and the territory
7. Reverend Kristin Michael Hayter - SAVED!
8. James Holden - Imagine this is a high dimensional space of all possibilities
9. Bipolar Feminin - Ein fragiles System
10. Bar Italia - The Twits

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