„Wenn du dich supergut abgrenzen willst, dann bist du hier fehl am Platz“
Das Nordlicht liegt wie eine Insel zwischen zwei Schnellbahnstationen im 22. Bezirk in Wien. Ich treffe hier Alena Mach; sie leitet das Notquartier der Volkshilfe, in dem bis zu 80 obdachlose und wohnungslose Männer und 20 Frauen Platz finden, um zu schlafen. Jetzt im Winter ist die Notschlafstelle so gut wie immer ausgebucht.
Radio FM4 / Elisabeth Scharang
Obdachlos mit Hund
„Wir haben diesen Schlafsaal so konzipiert, dass die Menschen mehr Privatsphäre haben. Deshalb gibt es bei uns keine Eisenstockbetten mehr“, erzählt Alena. „Jede dieser Schlafkojen ist mit einem Leselicht ausgestattet und mit Haken, auf denen man seine Sachen aufhängen kann.“ Alena arbeitet seit 2017 in der Notschlafstelle der Volkshilfe, sie hat die Einrichtung damals als Leiterin in Betrieb genommen. „Schau, das ist für Hunde, damit man sie bei der Koje anleinen kann. Wir sind die einzige Notschlafstelle, in die auch Menschen mit Katzen kommen können.“
Radio FM4 / Elisabeth Scharang
Respekt erleben
„Früher mussten alle um 8 Uhr Früh die Einrichtung verlassen; während Corona hat sich das geändert und jetzt sind die Notquartiere in einem 24-Stunden-Betrieb und die Leute müssen nicht raus.“ Wir sind im unteren Stockwerk angekommen. Hier war früher im Winter die Wärmestube, jetzt ist der große Raum mit angeschlossener Küche ein Tageszentrum, das Montag bis Freitag bis 17 Uhr geöffnet hat. Das Leben auf der Straße ist anstrengend, stressig und gefährlich. Einen Schutzraum zu haben, wo man sich und die Wäsche waschen kann, aus dem einen niemand wegjagt und wo man zudem ein warmes Essen bekommt, ist viel wert. „Es geht für unsere Klient:innen darum, ein bisschen Tagesstruktur zu erleben, und Respekt,“ sagt Alena.
Radio FM4 / Elisabeth Scharang
Versuch es mit Augenhöhe
Sie grinst. „Es wird dich vielleicht überraschen, wir sind als Mitarbeiter:innen hier nicht großartig gekennzeichnet, der Unterschied zwischen Betreuer:in und Klient:in ist manchmal gar nicht zu sehen. Ich sage das auch immer wieder dem Team und neuen Leuten: Bitte erwartet euch nicht, dass sich die Zielgruppe an uns anpasst. Es wird umgekehrt passieren; wir passen uns an.“
Ich lerne Claudia kennen. Sie erzählt mir von der Logistik mit großen Töpfen und großen Mengen an Essen, die sie jeden Tag zubereitet. Wie sie ihren Job beschreiben würde: Alles, was man in einer großen Familie auch macht. „Wir schimpfen, trösten, wir schlichten, wir machen Spaß, füllen Formulare aus, helfen. Und manchmal sitzen wir einfach da und hören zu.“ Ich frage sie, was sie in den Jahren, in denen sie hier arbeitet, für sich gelernt hat: Demut, sagt sie. „Die Leute hier, das sind Menschen wie du und ich, mit Träumen, Hoffnungen, Ärgernissen. Es sind Schicksale, natürlich, aber traurig macht mich eher, dass die Gesellschaft auf diese Leute so runterschaut.“ Sie gibt mir einen Rat mit: „Das nächste Mal, wenn dich jemand auf der Straße um Geld anschnorrt, versuch’s mit Augenhöhe. Schau ihm oder ihr in die Augen, nimm den Menschen vor dir wahr. Das ist den meisten mehr wert als ein oder zwei Euro.“
Radio FM4 / Elisabeth Scharang
Bei Minusgraden auf der Straße leben
Viviane und Leonie warten schon. Die beiden Streetworkerinnen nehmen mich mit auf ihre Runde durch Kagran und Floridsdorf. Ich verabschiede mich von Claudia und Alena und ziehe mir die Haube tief ins Gesicht. Trotz Anorak und warmen Socken kriecht der kalte Wind draußen in den Körper. Ich kann mir nicht vorstellen, was es heißt, bei diesen Temperaturen den ganzen Tag auf der Straße zu sitzen und zu betteln oder bei Minustemperaturen in einem Geschäftseingang oder einer U-Bahnstation zu schlafen.
Radio FM4 / Elisabeth Scharang
Ungarische Obdachlose flüchten nach Wien
Viviane spricht neben Deutsch auch fließend Ungarisch. Seit die Regierung unter Orban Obdachlosen verboten hat, im Freien und auf der Straße zu schlafen, ziehen Menschen, die in Ungarn ihre Wohnung verlieren, oft nach Wien weiter. Viele kommen auch aus kleinen Dörfern in Rumänien, um in Wien zu betteln und nach ein paar Wochen wieder nach Hause zu fahren. Viviane kennt viele ihrer Klient:innen. Sie kennt ihre Geschichten und weiß, an welchen Plätzen sie Unterschlupf suchen. „Ich mag es nicht, wenn die Leute von der Bettelmafia reden. Wenn du in Armut aufgewachsen bist, dann kannst dir gar nicht vorstellen, dass es auch anders sein kann. Du kannst dir gar nicht vorstellen, dass ein anderes Leben für dich möglich wäre. Für viele der Menschen, die ich regelmäßig betreue, ist das Betteln in Wien ihre einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen. Zu Hause gibt es oftmals keine Arbeit für sie.“
Radio FM4 / Elisabeth Scharang
FM4 Field Recordings: Im Notquartier für obdachlose und wohnungslose Menschen
In den Field Recordings am 6. Jänner von 13 bis 15 Uhr erzählen die Sozialarbeiter:innen und Betreuer:innen der Notschlafstelle Nordlicht über Abgrenzung, Freude, Frustration und erklären, wie man sich am besten vor einem Burnout schützt. Sie erzählen über ihren Arbeitsalltag und warum sie sich für diesen Job entschieden haben.
Publiziert am 06.01.2024