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Geschlossenes Pub mit vernagelten Fenstern

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Das britische Unterhaus vor dem letzten Höllenritt

Wenn die Gerüchte stimmen, dann verabschiedet sich das britische Unterhaus unter der Führung Theresa Mays morgen endgültig in Richtung eines fantastischen Paralleluniversums.

Von Robert Rotifer

Das Garagentor klappert in seinen Angeln, das klingt so, als würde einer ständig wütend anklopfen. Es ist schwer, diese Geräusche nicht symbolisch zu deuten, denn da weht in der Tat ein harter Wind rund um mein Arbeitszimmer/Heimstudio, das ich früher in meinen Heartbeat-Sendungen immer „die englische Außenstelle“ zu nennen pflegte. Und das sich seit einiger Zeit eher wie eine „Außenstelle in England“ anfühlt. Großer Unterschied.

Vielleicht sollte ich eingangs kurz erwähnen, dass sich die Sache rund um meine Erlaubnis zu bleiben, meinen sogenannten Settled Status, seit meinem letzten Blog positiv geklärt hat. Ich hatte ja monatelang keine Nachricht erhalten und mir vorgegaukelt, dass mich das überhaupt nicht berührt. Sollen sie sich ruhig Zeit lassen, ich kenne ja mein Recht.

Vernageltes und zugemauertes Straßenlokal in UK

Robert Rotifer

Aber dann haben mich alle möglichen Bekannten und Freund_innen ständig gelöchert, bis ich schließlich doch über meinen Schatten sprang und die Helpline anrief. Eine Nummer mit extrateurer Premium-Vorwahl, versteht sich. Es stellte sich heraus, ich hatte meinen Settled Status eigentlich schon am Tag nach meinem Antrag erhalten, nur aus irgendeinem Grund die E-Mail nicht bekommen. Auch nicht im Junk-Folder. Der Herr von der Helpline schickte sie mir noch einmal, und als ich sie öffnete, wurde mir erst bewusst, wie groß der Stein eigentlich war, der mir dabei von der Brust fiel. Man muss es fast unterdrücken, dieses instinktive Gefühl der Dankbarkeit dafür, dass einem von der Behörde zugestanden wird, was einem ohnehin zustand.

Nein, keine Angst, so schnell werd ich nicht sentimental, was mein durchgeknalltes Gastland angeht. Dazu passieren hier nach wie vor zu irre Dinge.

Ich brauch mich erst gar nicht der Versuchung hinzugeben, hier wieder was zum weiterhin brodelnden Thema des Antisemitismus in der Labour Party loszuwerden. Nur so viel: Alle Seiten dieser Saga haben sich mittlerweile unverzeihlich viel Blödsinn zu Schulden kommen lassen, und ganz frei von allen fehlgeleiteten Verschwörungstheorien ist an der Schadenfreude auf konservativer Seite und dem Ton der medialen Berichterstattung schon klar abzulesen, dass hier auch für die Zeit nach dem Brexit-Desaster vorgebaut wird: Nämlich mit allen Mitteln sicherzustellen, dass der Ruf der Corbyn-Fraktion genug ruiniert ist, um vom bereits fortgeschrittenen konservativen Meltdown bei den nächsten Wahlen nicht profitieren zu können – als ob es da überhaupt noch der Nachhilfe von außen bedürfte, das kann die Labour Party auch sehr gut allein.

Britische Stadt im Nebel

Robert Rotifer

Wenn gegengleich die ausgebootete, ehemalige konservative Chairwoman Baroness Waarsi ihre einsame Kampagne gegen die – im Wettstreit mit der immer weiter in den Rechtsextremismus abgleitende UKIP – unter den Tories grassierende Islamophobie führt und ihre Parteikollegin Andrea Leadsom im Unterhaus erklärt, das sei wohl „eine Angelegenheit fürs Außenministerium“, dann reicht das schon kaum mehr zur mittelfetten Schlagzeile.

Detto die selbstdiagnostiziert ahnungslose Ministerin für Nordirland Karen Bradley, die zur falschesten aller möglichen Zeiten kräftig Unfrieden in Nordirland säht, indem sie behauptet, die britischen Soldaten und Polizisten in jener Provinz hätten seinerzeit nur „auf würdige und angemessene Weise ihre Pflicht getan“, wenn sie damals am Bloody Sunday Katholiken erschossen. Nur um zwei Tage später zu erklären: „Ich möchte deutlich klarstellen: Ich glaube nicht, was ich gesagt habe, das ist nicht meine Ansicht“.

Fällt alles kaum mehr ins Gewicht.

Nicht, wenn Bradley dabei neben einem Außenminister wie Jeremy Hunt sitzt, der sich als künftiger Kandidat für die Nachfolge von Theresa May bewirbt, indem er im Vorhinein schon der EU die Verantwortung für einen harten Brexit zuweist und so sämtliche noch bestehende, post-brexit überlebensnotwendige Brücken zur EU munter abfackelt.

Werbung für den Euro-Tunnel: "Bringing Europe closer since 1994"

Robert Rotifer

Was „meaningful“ alles heißen kann

Die Konsequenzen all dieser Sager werden erst in den kommenden Monaten und Jahren zu spüren sein, einstweilen ist das britische Unterhaus noch mit sich selbst beschäftigt, denn diese Woche verspricht – wieder einmal – einen nie dagewesenen Höllenritt.

Niemand kann mehr mit Sicherheit sagen, wie dieser genau verlaufen wird, aber morgen, Dienstag, soll es nun wieder ein „meaningful vote“ über denselben Deal geben, der schon einmal mit der historisch größten Mehrheit abgelehnt wurde, dann ein weiteres Votum über den Ausschluss eines „No Deal“-Szenarios (stimmt, das hatten wir schon einmal, aber diesmal soll es auch wirklich gelten, sagt man) und eines über einen Antrag auf Aufschub des Brexit-Datums, wobei noch niemand wirklich weiß, wie lange (ob die 27 EU-Staaten zustimmen, fragt man gleich gar nicht).

Doch all das könnte bereits morgen wieder anders werden, denn wie aus der Gerüchteküche von Westminster zu vernehmen ist, erwägt Theresa May die Bedeutung der Formulierung „meaningful vote“ jenseits aller Semantik zu dehnen, indem sie die Abgeordneten nicht über das bestehende Austrittsabkommen, sondern über ein „notional agreement“ abstimmen lässt. Also ein Abkommen, das nicht existiert.

Weiße Felsen an der britischen Küste

Robert Rotifer

Wenn ich das richtig verstanden habe (ich beginne mir da selbst nicht mehr zu trauen), könnte das etwa bedeuten, dass May sagt: Lasst uns darüber abstimmen, ob das Unterhaus ein Austrittsabkommen ohne Backstop akzeptieren würde. Um dann, achtzehn Tage vor Auslaufen der Frist zur EU sagen zu können: Seht her, wir hätten eine Mehrheit für etwas, das ihr uns nicht anbietet. Wenn ihr uns das nicht gebt, seid ihr an allem schuld.

Wie gesagt, das klingt alles so irrwitzig, dass man es kaum mehr wahrhaben will. Aber rein erfahrungsgemäß kann es eigentlich nur noch schlimmer kommen als die schlimmsten Gerüchte. Es gibt immer noch eine Stufe des Wahnsinns, die man sich nicht ausgemalt hätte, und ein richtig guter Albtraum versteht selbst die Pessimistin und den Pessimisten noch zu überraschen.

Wumms, schon wieder rüttelt der Wind am Garagentor.

UPDATE 12.3., 14 Uhr CET:
Diese Story wurde vor der gestrigen Fahrt Theresa Mays nach Straßburg geschrieben, von der sie mit einer Zusatzerklärung zurückkehrte.
Nach derzeitigem Stand ist es wahrscheinlich, dass der Deal samt dieser Erklärung vom Unterhaus abgelehnt wird.

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