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Jackie Thomae hat einen Lockenkopf und steht im Freien an einem Fluss

Urban Zintel

The Struggle Is Real - und „Brüder“ ist ein Buch darüber

Ein Buch wie eine gute Serie: In „Brüder“ erzählt Jackie Thomae von Menschen in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen, indem sie die Wahrnehmung der einzelnen Personen aneinanderreiht. „Brüder“ ist einer der 20 Romane, die für den Deutschen Buchpreis nominiert sind.

Von Maria Motter

Ohne ersichtlichen Grund zieht ein Bub an einem Strand einem anderen Kind eins mit der Sandschaufel über und stürzt damit seine Eltern in eine veritable Krise. Das ist eines der Bilder in „Brüder“, das jetzt nichts Neues ist, aber dann doch eine gute Geschichte anstoßen kann.

Und gute Geschichten gibt es in Jackie Thomaes neuem Buch etliche. Auch wenn die Autorin und Journalistin Werdegänge aneinanderreiht und stets einen der Charaktere hervorholt, in Alltagsanekdoten beleuchtet und dessen Beziehungsstatus untersucht, um sich dann der oder dem nächsten zuzuwenden.

Das Cover des Buchs "Brüder" ist in Farbblöcken gestaltet

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„Brüder“ von Jackie Thomae ist 2019 bei Hanser Berlin erschienen.

Schließlich ist das ein Erzählprinzip, das einem aus Serien bestens vertraut ist, in Romanen aber noch selten Anwendung fand. Das Lesen bedarf auch beim Lesen keiner großen Anstrengung - herrlich. Zudem schreibt Jackie Thomae direkt aus unserer mitteleuropäischen Gegenwart und hat in fast jedem Absatz, auch wenn die Lage miserabel ist, eine Pointe auf Lager.

Schon wieder ein Buch über Männer? Na und!

Ein Triumvirat steht im Zentrum all dieser Geschichten: Die Halbbrüder Michael und Gabriel, die voneinander lange nichts wissen, sowie ihr senegalesischer Vater Idris, der in der Mitte des Buchs auf- und zur Rechtfertigung antritt. Nicht außer Acht zu lassen sind die weiblichen Charaktere.

Da Mick, der sich die Neunziger Jahre in den Clubs Berlins um die Ohren geschlagen hat und ein Frauenliebling ist, der sich gern alles nimmt, und dort Gabriel, der erfolgreiche Architekt, der die Kontrolle über sein Verhalten fatal verlieren wird und doch mit der internationalen Businesswelt so bestens vertraut war.

Jackie Thomae nimmt sich allgegenwärtiger Themen an. Wie fordernd die Arbeitswelt für sogenannte Spitzenarbeitskräfte doch ist - dazu gibt es ausreichend Ratgeberliteratur. „Vom Versagen der Kleinfamilie“, von „Kapitalismus, Liebe und Staat“ handeln viele Erzählungen. „Überarbeitung war das männliche Pendant zum weiblichen Zyklus, wie ich gelernt hatte“, heißt es in „Brüder“ an einer Stelle. Man muss nicht alle Anschauungen teilen, man muss nicht alle ProtagonistInnen mögen, um durchschnittlich recht gut unterhalten zu werden. Dass Väter durch Abwesenheit in der Kindererziehung glänzen, ist schon ein Klischee der letzten Jahrzehnte. Und dass manche nach den Raves und Partynächten in den 1990ern nie mehr nach Hause fanden, ist auch dokumentiert.

Dass im Partymodus jeder Mensch erst mal als Mensch angenommen wurde und Gleichberechtigung auf dem Dancefloor zum Anfassen nah war, aber der Mann im Lottoshop ein jämmerlicher Rassist ist und Tabloids die Hautfarbe nicht erwähnen, davon schreibt Jackie Thomae in „Brüder“. Sie versteht es, Beziehungsdynamiken spannend zu präsentieren und sie macht den „Feelgood-Rassimus“ (!) anhand mehrerer Beispiele klar. Alles in allem gelingt ihr in „Brüder“ ein sehr annehmbares Kaleidoskop an Realität, das mit sehr gewitzten Beschreibungen ausgestattet ist.

„Auch den abrupten Szenenwechsel zwischem dem fluoreszierenden Techno-Fegefeuer und dem Restaurant, dessen Wände Gondeln nachempfunden und mit Zypressen, Eseln, Gondolieres und einem Steinofen bemalt waren, hatte er ganz gut verkraftet.“

The struggle is real und das ist ein Buch darüber.

Geboren in der DDR, der Vater ein Afrikaner

Mit ihren Hauptfiguren teilt sich Jackie Thomae nur die biografischen Eckdaten: In der DDR geboren, der Vater ein Afrikaner, der erst spät in Erscheinung treten wird. „Brüder“ ist definitiv keine groß angelegte Auseinandersetzung mit dem Schwarz-Sein in Deutschland. Auch wenn die Geschichten von den großen Fragen zu Herkunft und Identität handeln, so wird man mit „Brüder“ in erster Linie unterhalten.

Schade ist, dass Jackie Thomae den Charakteren keine individuelle Sprache geschenkt hat. Alle weisen denselben Duktus auf. Bei einer filmischen Adaption würde „Brüder“ den Bechdel-Test wohl nur bestehen, wenn die wichtigen Frauencharaktere nicht zu Nebenfiguren verkürzt würden. Doch jetzt gibt es erstmal dieses Buch - es ist eines jener 20, die für den Deutschen Buchpreis nominiert sind. Die Shortlist wird am 17. September bekanntgegeben.

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